Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
dafür sorgen, dass ihr Geständnis eine gerechte Anhörung findet, dass man ihr eine Möglichkeit gibt, Gnade vor Dir zu finden.
Denn Thomas' bedrohliche Worte hatten seinen Entschluss nur noch gefestigt, dafür zu sorgen, dass dem Herrn und der Gerechtigkeit gleichermaßen gedient wurde.
Laut sagte er, an den Priester gewandt: »Ich verstehe.« Endlich hatte er das Gefühl, als begreife er wirklich: Gott hatte ihn nach Carcassonne geschickt und Vater Charles krank werden lassen, damit die Äbtissin die Möglichkeit bekam, zu bereuen.
»Gut«, entgegnete Thomas. »Und ich hoffe, dass du das sehr ernst nimmst ... so ernst wie dein Leben.« Dann verabschiedete er sich mit einem strahlenden, oberflächlichen Lächeln und ging den Korridor hinunter zur Gemeinschaftszelle. Michel sah ihm wortlos nach.
Die Äbtissin saß in ihrer Zelle auf der Holzpritsche. Ihr Gesicht war zwar noch geschwollen, aber weniger aufgedunsen, und die Blutergüsse waren dunkler geworden. Das verletzte Auge war nun größtenteils sichtbar und funkelte ebenso dunkel wie das andere.
Sobald der Kerkermeister die Tür geschlossen hatte, begann Michel so streng wie möglich -obwohl allein der Anblick der verwundeten, schmerzgeplagten Äbtissin ihm ans Herz ging: »So sagt mir, warum ich Euch jetzt nicht für schuldig erklären soll, Ehrwürdige Mutter. Ich habe Euer Zeugnis vernommen, in dem Ihr offen gesteht, Euch mit Hexerei abzugeben. Ich habe Euch ermutigt, zu bereuen und Gottes Vergebung zu erlangen, was Ihr abgelehnt habt. Warum sollte ich Euch noch länger zuhören?«
»Ihr müsst nicht«, antwortete sie leise.
»Darüber hinaus habt Ihr Euer Bestes getan, mich zu verhexen. Ihr habt mir die Träume eines anderen Mannes geschickt, eines Ketzers, der unter dem Einfluss des Teufels steht.« Er hielt inne, als er merkte, was er gerade gesagt hatte. Verwirrt schwieg er. Es kam ihm vor, als wären sein Geist und sein Herz zerrissen. Sein Verstand als Christ sagte ihm, dass ihre Erzählung über Magie übelste Ketzerei darstellte, und ihr freizügiges Gerede über schändliche Taten zutiefst unkeusch war. Doch er konnte die starken Gefühle nicht leugnen, die ihn zu ihr hinzogen.
Sei ehrlich, Michel; zuweilen siehst du eine Heilige in ihr, so wie damals, als sie den Mann vor dem Papstpalast heilte. Doch sie macht dir nur etwas vor...
»Ich habe Euch tatsächlich diese Träume geschickt«, gestand die Äbtissin. »Sie erzählen die Geschichte meines Geliebten, Luc de la Rose. Er war kein Ketzer, vielmehr ein Held. Er heilte, statt zu zerstören, und am Ende opferte er sich aus Liebe. All das Leid, das ich zu ertragen habe, ist nichts im Vergleich zu seinem, und ich will dafür sorgen, dass seine Geschichte erzählt wird. Wenn Ihr sie nicht aus meinem Mund hören wollt, sollt Ihr davon träumen.« Sie hielt inne. »Ihr habt mir keinen anderen Ausweg gelassen.« Dann wurde ihre Stimme weicher. »Ich höre noch recht gut. Ich weiß, was Vater Thomas vor der Tür zu Euch gesagt hat. Offenbar hat er Euer Leben bedroht.« Als Michel nicht reagierte, fuhr sie fort: »Mein armer Bruder, ich kann spüren, wie stark Euer Wunsch ist, mich zu retten. Euer Schicksal ist mit dem meinen eng verknüpft. Daran kommen wir nicht vorbei. Lasst mich ablehnen, zu bereuen, wieder und immer wieder. Ihr habt es mir mehrmals angeboten, wie das Gesetz es erlaubt, und Ihr müsst Euch nicht schuldig fühlen, wenn Ihr mich verurteilt. Mein Schicksal war besiegelt, noch ehe ich in dieses Gefängnis kam, doch Euer Schicksal liegt allein in Euren Händen. Geht und berichtet Vater Thomas, dass Ihr die Verurteilung beschlossen habt.«
Michel dachte über ihre Worte nach. Es schien logisch, die Äbtissin zu verurteilen. Sie war eine geständige Hexe, sie hatte es abgelehnt zu bereuen, und wenn er dem Befehl des Bischofs folgte, konnte er sein eigenes Leben retten. Und dennoch ... Dennoch vermochte er sein Gott gegebenes Versprechen nicht zu brechen. Ketzerin oder nicht, sie verdiente, wie alle Kinder Gottes, die Möglichkeit, den Herrn vor ihrem Tode kennen zu lernen.
Trotz allem konnte er sich noch immer nicht der Hoffnung entledigen, dass Rigaud sich zur Gnade bewegen ließe, wenn Mutter Marie Francoise erst einmal bekehrt wäre. Er holte tief Luft und bemerkte beiläufig: »Ehrwürdige Mutter, wir haben für solche Auseinandersetzungen keine Zeit. Bitte, fahrt mit Eurer Geschichte fort, und zwar rasch.«
Ihre Lippen waren noch zu geschwollen, um ein Lächeln zustande zu
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