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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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tief greifendes Wonnegefühl mit sich, dass er darin eintauchte und jegliches Zeitgefühl verlor. Der Junge verharrte so lange reglos, bis sich das Bein unter seinen Händen bewegte. Verblüfft schaute er auf und sah, dass sein Vater ihn aus staunenden Augen betrachtete.
    »Luc«, flüsterte er und stützte sich langsam auf die Ellenbogen. »Luc, mein Gott ...«
    Der Junge folgte dem Blick des Vaters auf das verbundene Bein: Es war nicht mehr geschwollen, das Fleisch gab der Berührung nach und hatte wieder eine gesunde Hautfarbe angenommen.
    Das Kind klatschte in die Hände und lachte entzückt auf, doch seine Schüchternheit hielt es davon ab, dem Grand Seigneur die Arme um den Hals zu schlingen. Sogleich schnaubte der alte Diener Philippe und regte sich auf seinem Stuhl. Paul legte den Finger auf die Lippen und bedeutete seinem Sohn, leise zu ihm zu kriechen und ihn zu umarmen.
    Das tat der Junge, umklammerte den Hals des Mannes und drückte seine weiche Kinderwange an die wettergegerbte, raue seines Vaters. Zu Lucs großer Freude hielt sein Vater ihn mit beiden Armen fest.
    »Mein Sohn, bitte vergib mir«, sagte Paul, und die Wange des Älteren wurde plötzlich tränennass. »Ich habe dir unrecht getan und versucht, die Wahrheit zu verdrängen, aus Sorge um deine Mutter. Ich hatte gehofft, Unwissenheit würde dich vor deinem Erbe beschützen, doch nun habe ich erkannt: Es wird dich überkommen, ob ich dir beistehe oder nicht. Am besten ist, ich helfe dir dabei, mein Junge ...«
    Als sich Bruder Michel im Dunkeln aufstützte, sanken seine Hände tief in die weiche Matratze. Die Bilder aus den Gedanken, aus den Träumen eines anderen waren auf ihn eingestürmt und hatten ihn verwirrt und verletzt. »Aha«, flüsterte er. »Sie glaubt immer noch, mich verhexen zu können ...«
    Am nächsten Morgen begab er sich früher als gewohnt zum Gefängnis. Als der Kerkermeister ihn wieder zur Zelle der Äbtissin geleitete, öffnete sich die Tür von innen, und Vater Thomas trat ihnen entgegen. Der Saum seiner auberginefarbenen Seidenrobe schleifte raschelnd über den Lehmboden.
    »Vater ...«, hob der Mönch an, doch Thomas gebot ihm mit einer barschen Geste zu schweigen. Dabei hatte Michel sagen wollen: Ihr habt Recht, Vater, sie ist über alle Maßen gefährlich, und ich kann sie nicht mehr länger verhören, denn sie hat meine Träume verhext...
    Mit undurchsichtiger Miene legte Thomas den Kopf schief und betrachtete Bruder Michel eingehend. »Ich war neugierig und wollte nachsehen, wie es der Äbtissin geht. Sie will natürlich nicht mit mir reden, doch es hat den Anschein, als hättest du dich entschieden, auf den weiteren Einsatz der Folterknechte zu verzichten.« Sein Ton war sanft und gelassen, doch Michel spürte die darin lauernde Gefahr.
    Ehe Thomas die nahe liegende Frage stellen konnte, erklärte Michel entschlossen: »Es gab dazu keine Veranlassung, Vater. Wie ich Euch bereits gestern Abend sagte, hat sie recht offen gesprochen.« Er wollte noch weiterreden, doch Thomas unterbrach ihn erneut.
    »Du sollst wissen«, sagte der junge Priester mit unverändert ruhiger Stimme, »dass ich gestern Abend eine sehr interessante Unterhaltung mit dem Bischof geführt habe. Nach unserem Dafürhalten trittst du jetzt die Nachfolge von Vater Charles an. Du wirst zweifellos verstehen, dass wir uns um jeden ... Fehltritt bei der Befragung der Äbtissin kümmern. Wir werden keine Verzögerungen dulden, und schon gar nicht irgendwelche abwegigen Gedanken an Gnade.«
    Ohne das Gesicht zu verziehen nickte Michel. »Tadel ist eine sehr vernünftige Strafe bei einem Fehlurteil.«
    Er hatte das letzte Wort noch nicht ganz ausgesprochen, als Thomas rasch entgegnete: »Wir reden nicht von solch milden Dingen wie Tadel oder Entzug der Priesterweihe, Bruder ... nicht einmal von der weitaus schwereren Strafe der Exkommunikation. Vielleicht hat Bischof Rigaud die Haltung der Kirche nicht deutlich genug geäußert. Alle, die Mitgefühl mit Mutter Marie Franchise zeigen, sind wie sie mit dem Teufel im Bunde und werden dieselbe Strafe erleiden. Das Urteil muss lauten: Sie ist eine relapsa.«
    Wieder war Michel nicht die geringste Reaktion anzumerken, doch vor seinem geistigen Auge sah er, wie ein Holzhammer einen Bogen durch die Luft beschrieb und krachend auf einem Pfahl landete, der in die fruchtbare Erde von Carcassonne getrieben wurde. Und in diesem Augenblick versprach er Gott: Beschütze mich vor der Magie der Äbtissin, und ich will

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