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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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bringen, doch ihre Augen verrieten genug, als sie zu sprechen begann ...

T eil IV - SYBILLE
CARCASSONNE Herbst 1348
X
    Ich war schließlich eingeschlafen, dem Regen und den Tieren ausgeliefert, und erwachte beim Morgengrauen zitternd vor Feuchtigkeit. Als ich mich wieder auf den Weg machte, klebten mir die Röcke an den Beinen. Mein Ziel war nahe. Ich spürte, ich würde es am selben Tag noch erreichen.
    So wanderte ich durch den Wald, über Weiden und verlassene Felder, bis ich in ein gespenstisch leeres Dorf kam. Dort, vor einem kleinen Wirtshaus, erwartete mich ein merkwürdiger Anblick: An einem Baum hing die weiße Ordenstracht einer Nonne und raschelte sanft im Wind. Ohne Zweifel waren jene, die ihre Trägerin gepflegt hatten, inzwischen wie alle anderen umgekommen, denn das Gewand war steif, als wäre es lange Zeit Sonne, Wind und Regen ausgesetzt gewesen. Doch es war auch von dem Sturm verschont geblieben, in den ich am Abend zuvor geraten war.
    Daher legte ich rasch meine feuchten Kleider ab und vertauschte sie mit der Ordenstracht, dem Schleier und allem, was dazugehörte. Ich war nicht nur froh über das trockene Gewand, sondern auch über eine Verkleidung. Mit neu gewonnener Zuversicht ging ich dort weiter, wo der Boden eben und frei von Hindernissen war. Schließlich lief ich über einen Pfad, der durch unbewohnte Gegenden auf eine Stadt zuführte - den Holzpalisaden nach war es Carcassonne.
    Trotz meines Kummers und meiner Müdigkeit lächelte ich bei diesem Anblick.
    Carcassonne, ein Ort der Sicherheit.
    Dort könnte ich Schutz und etwas zu essen finden, denn ich war völlig ausgehungert. Den Blick auf die Stadt gerichtet, beschleunigte ich meine Schritte - und wäre beinahe mit einer großen dunklen Gestalt zusammengeprallt, die mir den Weg versperrte. Ich schaute auf und erblickte einen stämmigen Mönch in einer schwarzen Kutte, deren Kapuze von einem weißen Rand gesäumt war. Ein Dominikaner.
    Ein Inquisitor. Etwas war merkwürdig an ihm, was ich nicht sofort benennen konnte. Trotz meiner Überzeugung, dass die Göttin bei mir war, konnte ich einen plötzlichen Schauder der Angst nicht unterdrücken. War er vom Feind gesandt, mich zu finden?
    »Guten Tag, Schwester«, grüßte er lächelnd. »Sagt, was hat Euch bewogen, Euch allein in dieser Gegend aufzuhalten?«
    Ich dachte: Wenn ich fortlaufe, mache ich mich verdächtig. Er ist nur ein Mönch, er kommt nicht aus Toulouse, und er kennt mich nicht.
    Daher antwortete ich gleichmütig: »Guter Bruder, dasselbe könnte ich Euch fragen.« »Ah«, entgegnete er mit einem feisten Grinsen, und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, »aber ich bin nicht allein.«
    Nur zu bald sollte ich erfahren, was er meinte: Starke Hände packten mich an den Handgelenken und zerrten mich nach hinten, bis ich gegen den Körper eines zweiten Mannes stieß, den ich nicht sehen konnte, der aber mindestens so groß und stark sein musste wie der erste.
    Ich trat um mich und schrie um Hilfe. Für einen Moment gelang es mir, mich halb umzudrehen und einen Blick auf meinen Häscher zu werfen. Auch er trug die Ordenstracht eines Dominikaners.
    Sie hatten mich schließlich eingeholt, der Böse hatte sie gesandt. Ich war verloren, doch ich würde mich nicht ergeben. Entschlossen grub ich meine Zähne in einen harten, muskulösen Unterarm, bis der Mann hinter mir aufstöhnte und meine linke Hand losließ.
    Doch der erste Dominikaner erwischte sie und hielt sie fest. »Kein Geld«, berichtete ihm der andere, woraufhin er unwirsch knurrte.
    Plötzlich vernahm ich das Donnern von Pferdehufen und das Knirschen von Wagenrädern. Eine Frauenstimme rief: »Los, verschwindet, ihr Räuber! Ihr Hunde! Und canis Domini seid ihr auch nicht. Ich habe die armen Mönche gefunden, denen ihr die Kleider gestohlen habt! Sie werden euch anklagen! Verschwindet, habe ich gesagt!«
    Ein Peitschenknall. Ein zweiter, und ein dritter. Etwas Schweres - ein Stein? - traf mich am Kopf. Ich fiel hintenüber, und keine Arme waren da, die mich auffingen, nur der kalte Boden, die harte Erde; der Aufprall nahm mir die Luft. Die Mönche verschwanden aus meinem Blickfeld, und an ihre Stelle trat der Himmel, am Rand eingefasst von den Ästen hoher Bäume. Er war strahlend blau, und eine trockene, hartnäckige Brise vertrieb die Wolken, die der Sturm hinterlassen hatte.
    Kurz darauf schob sich ein anderes Gesicht vor das Blau des Himmels, ein Frauengesicht, länglich, eckig und bleich, umgeben von einer weißen

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