Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
senkte den Kopf, sodass ich ihre Augen unter den Lidern kaum sehen konnte. Ihr Lächeln schwand. »Schwester Marie Magdeleine sagte, Ihr hattet gestern Schwierigkeiten mit Eurem Gedächtnis. Ist es zurückgekehrt?«
»Es tut mir Leid, nein ...«
»Aber Ihr wisst noch, wie Ihr heißt. Erinnert Ihr Euch noch an andere Dinge? An das Kloster, aus dem Ihr kommt, vielleicht? An die Schwestern, die mit Euch gereist sind?«
»Ich ... Nein. Es tut mir Leid.«
»Ihr habt offensichtlich einen langen Weg hinter Euch. Ihr tragt zwar die Ordenstracht einer Franziskanerin, doch es sind heutzutage nur noch wenige von uns übrig. Ich glaube, das nächste Kloster liegt in Narbonne, doch die Nachrichten verbreiten sich nach der Pest so langsam. Ich weiß nicht einmal, ob dort überhaupt Schwestern überlebt haben.« Sie hob den Kopf, wandte mir ihr längliches Gesicht zu und schaute mich mit einem steten, bohrenden Blick an, dessen Intensität mir Unbehagen einflößte.
»Narbonne?« Ich zögerte. Wenn ich überleben wollte, musste ich die Lüge überzeugend weiterspinnen, die mir Schwester Marie Magdeleine in den Mund gelegt hatte. »Ehrwürdige Mutter, ich will keine Schwierigkeiten machen, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. «
»Ah«, erwiderte sie so zurückhaltend, dass ich nichts damit anzufangen wusste. »Dann werden wir eben den Schwestern dort schreiben und sie fragen, ob sie eine Schwester Marie Francoise kennen ... obwohl der Name in diesem Orden sehr häufig vorkommt. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, um Euch zu helfen, den Ort zu finden, an den Ihr gehört.« Sie erhob sich und wollte gehen, doch nachdem sie mir schon den Rücken zugewandt hatte, blieb sie stehen und drehte sich wieder zu mir um. »Ich will nicht anmaßend sein, aber als ich eine Franziskanerin sah, noch dazu in Ordenstracht, war ich unwillkürlich überzeugt, es sei Gottes Absicht, dass sich unsere Wege kreuzen. Ich habe hier nur Postulantinnen und Novizinnen, die das Gelübde noch nicht abgelegt haben. Ich brauche eine erfahrene Schwester, die mir bei der Organisation und der Unterweisung der anderen zur Hand geht. Würdet Ihr mich unterstützen, bis wir wissen, woher Ihr kommt? Ihr seid noch so jung, kaum mündig und bereits in den Orden aufgenommen - Gott hat offenbar mächtig in Eurem Leben gewirkt. Werdet Ihr bei uns bleiben?«
Jetzt war es an mir, zu zögern. Ungebildet wie ich war, wusste ich fast nichts über Nonnen, außer dass sie lesen konnten, denn ich hatte - bei den wenigen Gelegenheiten, als Maman uns bei unseren Aufenthalten in Toulouse mit zum Gebet in die Kirche von Saint-Sernin genommen hatte - die verschleierten Schwestern im Allerheiligsten gesehen, wie sie in ihren kleinen Büchern den Zeilen folgten, die eine andere Schwester vorlas. Ich hätte eine Zisterzienserin nicht von einer Dominikanerin unterscheiden können, oder eine arme Klarissin von einer Angehörigen des Ordens von Fontevrault. Dennoch blieb mir nichts anderes übrig, als vorläufig auf die gute Absicht dieser Frau zu vertrauen. Die Göttin hatte mich aus einem bestimmten Grund hierher geführt, und hier würde ich bleiben, solange ich sicher war.
»Mutter Geraldine«, begann ich, so ehrlich es mir möglich war, »ich habe Angst. Ich weiß nicht, wer ich bin, und kann mich kaum an mein Latein erinnern. Ich fürchte, dass ich nicht einmal lesen oder mich an meine Gebete erinnern werde. Ihr wart so freundlich zu mir ... Wie könnte ich es ablehnen, Euch diese Wohltaten zu vergelten? Doch wie soll ich Euch von Nutzen sein, wenn ich mich nicht einmal an die Erfahrung erinnere, die Ihr braucht?«
»Habt keine Angst«, entgegnete sie leise und strich mir mit den Fingern beruhigend über die Wange. »Die Zeit wird Euch Euer Gedächtnis wiedergeben. Und wenn nicht, so werde ich Euch helfen. Wir beginnen mit Euren Lektionen gleich heute Nachmittag, und in einem Monat könnt Ihr wieder lesen und schreiben. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass Ihr mir geschickt wurdet, um mir zu helfen, nicht das Gegenteil.«
Ich lächelte und war erleichtert. Denn ich wusste, wenn ich eine Zeit lang bliebe, Lesen und Schreiben lernte und mir das Benehmen einer Dame von Rang aneignete, würden die Inquisitoren mich niemals als das Bauernmädchen erkennen, das ich einmal gewesen war. Aber nur, wenn es mir gelänge, die Nonnen weiterhin über meine Person zu täuschen. Diese Mutter Oberin schien eine rasche Auffassungsgabe zu haben. Ihre großen Augen drückten
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