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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Haube mit einem weißen Schleier. Ehrwürdige Mutter, murmelte eine Stimme hinter ihr, und ich wusste, es war die Göttin. Die Frau trug die gleiche Kleidung wie ich, und als sich unsere Blicke trafen, war der ihre so voller Mitgefühl, dass ich, bekümmert und verwirrt wie ich war, zu weinen begann.
    »Gott hat uns hierher geführt«, erklärte sie lächelnd, während sie mir die Tränen abwischte.
    Sie hieß Mutter Geraldine. Bald sollte ich ihren Namen in voller Länge als Mutter Geraldine Franchise kennen lernen, doch an jenem Tag hörte ich nur, wie die anderen Nonnen sie nannten. Mutter Geraldine half mir auf einen großen Wagen mit einem Dach aus Segeltuch, das uns vor der Sonne schützen sollte. Ich kann mich noch gut an diese Fahrt erinnern, an das Schnauben und Schreien der Maultiere, an das ständige Rumpeln und Wackeln des Wagens, das mir, die ich von meinem Sturz noch immer angegriffen war, Kopf-und Rückenschmerzen bereitete. Ich erinnere mich an die Freundlichkeit der Frauen, die mir Brot und etwas zu trinken aus einem Becher anboten und meinen Kopf auf ihren weichen Schößen ruhen ließen. Die meiste Zeit über murmelten sie Gebete vor sich hin: Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade; du bist gebenedeit unter den Weibern ...
    Wir fuhren, bis es dämmerte, ehe wir anhielten und ein Lager aufschlugen. Rasch wurde es dunkel. Ich schlief unruhig, und ich weiß noch, dass Mutter Geraldine die halbe Nacht aufblieb, um im Wagen über mir zu wachen. Die Nonnen hatten ein großes Feuer entfacht, dessen flackerndes Licht die Haut und die weiße Ordenstracht meiner Wohltäterin in ein unheilvolles, helles Orange tauchte.
    Am nächsten Morgen fuhren die Nonnen schweigend weiter. Ich erinnere mich vage daran, dass wir ein riesiges Steingebäude erreichten, dem der Gestank des Todes anhaftete, und dass man mich auf ein Bett legte, wo ich umgehend in tiefen Schlaf sank.
    Schließlich kam ich wieder zu mir und wurde vollends wach beim Anblick einer Schwester mit weißer Haube und schwarzem Schleier, die sich über mich beugte, Mund und Nase bedeckt von einem um das Gesicht gebundenen Tuch. Als sie sah, dass ich die Augen aufschlug, zeigten sich kleine Fältchen in ihren Augenwinkeln, sie klatschte in die Hände und sagte mit gedämpfter Freude: »Gott und dem Heiligen Franziskus sei Dank! Wie geht es Euch, Schwester?«
    »Besser«, krächzte ich und fragte mich, ob ich, noch halb im Delirium, mir ihre Vermummung nur einbildete. Doch der seltsame, unerfreuliche Geruch - ein Hauch dessen, was ich im Schlafzimmer der Frau des Goldschmieds wahrgenommen hatte - war noch spürbar und offensichtlich ganz real.
    Mir blieb keine Zeit, mich danach zu erkundigen, denn meine Pflegerin hatte den Raum schnell verlassen, kam aber bald freudig mit einer Schüssel Suppe zurück. Sie war eine junge, angenehme Frau und für eine, die den Schleier genommen hat, überraschend mitteilsam. Während ich langsam aß, erfuhr ich von ihr, wie es um mich stand: Wir seien in einem Nonnenkloster in Carcassonne, sie heiße Schwester Marie Magdeleine, und, ja, nebenan habe es Tote gegeben, doch man habe sie fortgebracht, und die anderen Schwestern schrubbten den Raum jetzt aus, sodass der Geruch bald vergehen werde. Die Schwestern hatten schon befürchtet, ich würde vielleicht an dem Schlag sterben, den mir die Räuber versetzt hatten, da ich über Gebühr lange schlief und nicht geweckt werden konnte. Aber Mutter Geraldine, eine außerordentlich fromme und mitfühlende Frau, habe in der vergangenen Nacht neben meinem Bett gebetet. So schwach ich auch war, durchzuckte mich plötzlich ein Gedanke. Erschrocken fuhr ich zusammen und fasste mir an den Kopf, wo ich die zu Schnecken gerollten, langen Zöpfe zu spüren erwartete, die mich als Schwindlerin enttarnt hätten. Zu meiner Erleichterung fühlte ich nur das feine Leinen der Haube. Mein Schleier lag sorgfältig zusammengefaltet in der Ecke.
    Falls Schwester Magdeleine meine langen Haare unter dem Leinen bemerkt hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken und fragte höflich: »Und wie kam es dazu, dass Ihr allein unterwegs wart, Schwester?«
    Es ist natürlich eine unerhörte Sache für eine Frau, vor allem für eine Nonne, ohne Begleitung zu reisen. Fieberhaft zerbrach ich mir den Kopf nach einer Erklärung, doch mir wollte keine einfallen. Nachdem ich mein Gegenüber eine Weile angestarrt hatte, sagte ich: »Ich weiß nicht.«
    »Ihr erinnert Euch nicht mehr?« Zwischen Schwester Marie

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