Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
grauen Umhängen, mit deformierten, in Lumpen gewickelten Füßen und Händen, an zerstörte Gesichter, die unter Kapuzen hervorspähten, an den Klang von Glocken und Rasseln - und an meine Mutter, die mich am Arm fortzog, während wir eilig unserer Kate zustrebten und mein Vater ihnen aus sicherer Entfernung verdorbenes Obst zuwarf.
Die erste Leprakranke, die ich wusch, war eine junge Frau aus gutem Hause, die behauptete, sie sei einmal schön gewesen. Sie weinte vor Scham, als sie den grauen Umhang entfernte, der sie als Unreine kennzeichnete, und ich weinte mit ihr - aus Mitleid. Ihr Gesicht war kaum noch als menschliches Antlitz zu erkennen. Trotz unserer Pflege starb sie kurz darauf.
Wie still es war in dem Saal, wie stumm die Leidenden - stumm, weil sie nicht mehr zu sprechen wagten, denn offiziell waren sie für tot erklärt worden, hatten häufig an ihrem eigenen Begräbnis in einer Kirche teilgenommen, die leer war bis auf den Priester, der sich in beträchtlicher Entfernung hielt.
An jenem Morgen kümmerte ich mich um einen Mann, einen alten Bauern namens Jacques. Er war ein kluger Kopf und trotz seines Zustands als einer der wenigen stets zu Spaßen aufgelegt. Beide Füße waren von der Krankheit befallen, und in die Wunden war Brand gekommen. Er benutzte seine handgeschnitzten Krücken und bewegte sich schwankend vorwärts, obwohl seine Erscheinung ungewollt grotesk anmutete. Doch er war seit fünf Jahren in unserer Obhut, und ich hatte mich bald so an ihn und die anderen Pflegebedürftigen gewöhnt, dass ich über seine Entstellungen hinwegsah und mir den Mann vorstellen konnte, der er einmal gewesen war. Tatsächlich mochten wir uns - es war, als dürfte ich meinen eigenen Vater pflegen, und ich glaube, er hatte eine Tochter, die er wegen seiner Krankheit nicht mehr wieder sehen würde. Auf diese Weise trösteten wir einander.
An jenem besonderen Morgen mit Schwester Habondia bestand unsere erste Aufgabe darin, die Nachtgeschirre zu leeren und an der Pumpe im Abtritt nebenan zu reinigen. Als wir damit fertig waren, gingen wir wieder ins Lazarett und begannen, jene Unglücklichen zu säubern, die zu verkrüppelt oder zu krank waren, um das Nachtgeschirr zu benutzen.
Als ich zurückkehrte, wartete ich auf Jacques' üblichen Gruß, doch an jenem Morgen kam er mir nicht wie sonst auf seinen Krücken entgegen, sondern lag reglos auf seinem Lager.
Habondia, die am anderen Ende des Krankensaals kniete, hatte Jacques' verändertes Verhalten offensichtlich nicht bemerkt. Als ich mich ihm näherte, überkam mich das Zweite Gesicht, und ich sah mit äußerster Klarheit, dass sich der Brand in seinen Füßen gefährlich ausgeweitet hatte.
»Schwester!«, rief ich Habondia durch den Saal zu. Erschrocken ließ sie ihre Schüssel fallen, Wasser spritzte auf und verursachte noch dunklere Flecken auf ihrer ohnehin dunklen Tracht. »Helft mir mit Jacques! Er ...!«
Sie blieb auf den Knien, warf einen Blick über die Schulter und schaute stirnrunzelnd zu uns herüber. »Schnell!« fügte ich hinzu, und ohne dass ich mir bewusst war, was ich tat, hatte ich die Lappen von seinen stark entzündeten, heißen und geschwollenen Füßen gewickelt. Als ich diese anhob, entdeckte ich eine tiefrote Linie, die bereits Jacques' linke Wade hoch wanderte. Dann geschah etwas Seltsames.
Plötzlich überkam mich - wie soll ich es erklären? - das Gefühl, das Richtige zu tun, ein Gefühl des Friedens, der Liebe. Eine sanfte Wärme breitete sich von meinem Kopf her aus, als stünde ich in warmem Sonnenschein. Einen zeitlosen Augenblick lang löste ich mich darin auf. Es war dieselbe Gewissheit der Nähe der Göttin, die ich nach Nonis Tod empfunden hatte.
Als ich neben mir einen leisen Schreckenslaut vernahm, drehte ich mich zur Seite und bemerkte, dass Schwester Habondias starrer Blick auf mich gerichtet war. Ich musste neben Jacques niedergekniet sein, denn ich hielt mit beiden Händen seine Füße umfaßt, und meine Hände umgab ein goldener Glanz, der selbst bei Tageslicht schimmerte. Doch Jacques' Füße waren nicht mehr zerstört und brandig, sondern heil, die Haut gesund und rosa. Allein die fehlenden Zehen ließen ahnen, dass die Lepra dort gewütet hatte.
Nonis Hände, mit der heilenden Kraft gesegnet. Ich hatte keinen Zweifel, dass Nonis glorreicher Tod diesen Augenblick ermöglicht hatte, denn ich spürte ihre Kraft, spürte, dass sie neben mir stand.
Plötzlich verging die Zeit wieder normal. Ich war mir meiner
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