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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Nonne. Ich bin nicht einmal eine richtige Christin.«
    Anmutig kniete sie sich neben mich und ergriff meine Hand. Sie war viel größer als ich, eine Tatsache, die ich in jenem Augenblick als seltsam tröstlich empfand, als wäre sie wirklich die verzeihende Mutter und ich das Kind. »Gott ist größer als Seine Kirche«, sagte sie. »Größer als die Lehrmeinung der Menschen, größer als wir ermessen können. Wie wir Ihn auch nennen - oder Sie, die Göttin: Diana, Artemis, Hecate, Isis, die heilige Maria ...« Sie schwieg einen Augenblick lang. »Als wir Euch zuerst fanden, entdeckte ich Salomos Siegel um Euren Hals.« Verblüfft blinzelte ich sie an.
    »Der goldene Talisman mit dem Stern und den hebräischen Buchstaben. Ihr tragt ihn doch noch?« Ich nickte sprachlos. Wie kam es, dass diese christliche Frau den Namen des magischen Medaillons kannte, obwohl ich, die Trägerin, nicht die geringste Ahnung davon hatte?
    »Gut, er beschützt Euch. Er hat Euch geholfen, hierher zu kommen.«
    »Ich weiß nicht einmal, was er bedeutet«, gab ich zu. »Und ich habe noch nie jemanden geheilt wie Jacques heute. Ich weiß nicht, warum plötzlich ...«
    »Aber ich weiß es«, fiel sie mir ins Wort. »Es ist das Erbe, das Euch Eure Großmutter hinterlassen hat, der Segen Eurer höheren Weihe, die durch ihren Opfertod vollendet wurde. Denn Ihr, meine liebe Sybille, seid dazu ausersehen, mehr zu sein als ein Mensch, und Eure Großmutter hat ihre Rolle bei dieser Aufgabe hervorragend erfüllt. Große Macht wird über Euch kommen, und wir sollen Euch lehren, sie richtig zu gebrauchen ...«
XI
    Bis zum Morgen des folgenden Tages hatte das gesamte Kloster von Jacques' Heilung erfahren, wenn nicht mit Lob und Freude von seinen eigenen Lippen, so doch aus Habondias gehässigem, Furcht verbreitendem Mund. Die Grenzen der Treue waren bei der nächsten Mahlzeit an der langen Tafel noch deutlicher geworden: Sechs Schwestern wurden zu glühenden Verfechterinnen von Habondias Misstrauen. Die Gruppe hockte eng beieinander, so nah wie eine Elritzenschar, sie steckten die verschleierten Köpfe zusammen und tuschelten, wobei sie mir verstohlene Blicke zuwarfen und hörbar um Schutz beteten. Und ging ich vorbei, verfluchten sie den Teufel.
    Ähnlich wie Schwester Habondia war auch ich von meinen Anhängerinnen umgeben. Es war zu spät, meinen Anteil an der Heilung des Leprakranken zu leugnen, doch ich vergaß nie darauf hinzuweisen, Gott habe das Wunder vollbracht, nicht ich. Die meisten verstanden das, suchten aber meine Nähe, als glaubten sie, ich strahle nun, da mir einmal Gottes Gnade zuteil geworden sei, selbst diese Gnade aus, und wollten sich in ihr sonnen. Einige sprachen mich in ihrem Herzen heilig, allen voran Schwester Marie Magdeleine, die sich von religiösem Eifer dazu hinreißen ließ, sich wie meine Jüngerin zu verhalten. Sie ging dicht neben mir her, sodass sich unsere Ordenstrachten berührten, sie hielt meine Hand, drückte sie an ihre Lippen und bat mich mit verzücktem Blick: »Sprich zu uns, liebe Schwester, von Gott. Was hat Er heute zu dir gesagt?«
    »Ich bin keine Heilige«, beharrte ich. »Gott teilt sich mir ebenso mit wie dir, durch die Liturgie und die Schrift.«
    In jener Nacht fand ich keinen Schlaf. Viele meiner Schwestern waren mir inzwischen ans Herz gewachsen, vor allem meine Beschützerin Geraldine, die seit ihrer erstaunlichen Eröffnung, sie sei bestimmt, meine Lehrerin zu sein, nicht mehr mit mir gesprochen hatte. Doch ich lebte in der Furcht, dass wir beide bald als die entlarvt würden, die wir waren...
    Am nächsten Tag, ich war gerade mit Schwester Habondia bei den Kranken beschäftigt, erschien Schwester Marie Magdeleine in der Tür, atemlos und mit hochrotem Gesicht, als wäre sie gerannt. Sie achtete nicht auf den forschenden Blick, den Schwester Habondia ihr aus zusammengekniffenen Augen zuwarf, und rief mir zu: »Mutter Geraldine lässt Euch in ihre Schreibstube bitten. Ihr sollt sofort kommen!«
    Sobald wir draußen auf dem Korridor standen, ergriff Magdeleine meine Hand. »Ich soll Euch bei den Kranken vertreten«, flüsterte sie. »Aber ich muss Euch sagen ... Schwester ...«, sie deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf Habondia, »... hat Vater Roland veranlasst, dem Bischof von dem Wunder zu berichten.« Sie drückte mir erregt die Hand.
    Entsetzt starrte ich sie an. »Soll das heißen, der Pater und der Bischof wissen davon?«
    »Mehr noch.« Ein breites Lächeln erschien auf ihrem

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