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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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selbst wieder völlig bewusst, dessen, was ich gerade getan hatte, und stand verblüfft und sprachlos noch immer an derselben Stelle.
    Als ich Jacques in die Augen blickte, strahlten sie vor Freude, ein breites Lächeln glitt über sein Gesicht. Er richtete sich auf, streckte die Hände aus, ergriff die meinen und begann, sie mit Küssen zu bedecken. Schließlich rief er mit einer beunruhigenden Bewunderung in der Stimme: »Ihr habt mich geheilt! Ihr habt mir das Leben gerettet, ich kann wieder gehen!« Bei diesen Worten stand er auf und wanderte im ganzen Saal herum, sodass alle Leprakranken ihn sehen konnten. Laut verkündete er: »Hört alle her! Diese gute Nonne hier ist eine Heilige, eine Wunderheilerin, die uns Gott gesandt hat! Sie hat mich wieder gesund gemacht, obwohl ich schon den Tod vor Augen hatte. Ein Wunder! Gelobt sei der Herr, dass er sie uns gesandt hat - Schwester Marie Francoise!«
    Bei seinen Worten stieg mir eine tiefe Röte ins Gesicht, und eine Hand griff nach meinem Herzen. Wie sollte ich nun in der Sicherheit dieses Klosters weiterleben können? Ein leises Geräusch riss mich aus meinen Gedanken, ein Geräusch, das ich wegen der über mich hereinbrechenden Rufe, Fragen und Bitten eigentlich hätte überhören müssen, doch bei diesem Flüstern gefror mir augenblicklich das Blut in den Adern. »Magie«, hauchte Schwester Habondia. »Hexerei ...«
    Meine große Freude über Jacques' Heilung wich einer quälenden Sorge. Allein, die Leprakranken ließen mir keine Zeit zum Nachdenken. Vor ihrem Drängen, sie auch zu heilen, floh ich hastig aus dem Krankensaal; Schwester Habondia folgte mir auf den Fersen, sie schien allerdings darauf zu achten, ein paar Schritte hinter mir zu gehen. Ihr Verhalten flößte mir Angst ein, musste ich doch befürchten, sie würde jede Mitbewohnerin des Klosters gegen mich aufwiegeln. In kürzester Zeit würde man mich dem Bischof und anschließend den Inquisitoren übergeben. Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, eilte ich in die Kapelle, um mit den anderen das Opus Dei zu singen. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt die Flucht ergriffe, würden alle im Konvent alarmiert, sodass man mich rasch einholen könnte. Doch wenn ich nach Sonnenuntergang fort ginge, würde vor dem Frühgebet am nächsten Morgen niemand mein Verschwinden bemerken, und ich könnte die Stunden der Dunkelheit ausnutzen. Denn die Regeln untersagten den Schwestern, in der Kapelle oder während des anschließenden gemeinsamen Essens zu sprechen. Habondia wäre es unmöglich, die Obrigkeit vor dem nächsten Tag zu alarmieren.
    Ich sang also die Stundengebete mit meinen Schwestern, als wäre nichts geschehen. In meiner Aufregung war ich mir jedoch die ganze Zeit über bewusst, dass Habondia mich beobachtete.
    Nach der Andacht hatte jede Nonne eine besondere Aufgabe, um das Abendessen vorzubereiten. Meine war es, Schüsseln auf die lange Tafel zu stellen. Schließlich war es an der Zeit, dass wir uns gemeinsam zu Tisch begaben. Wir neigten das Haupt, während Mutter Geraldine das Dankgebet sprach.
    Doch als ich den Kopf hob und in die Runde schaute, bemerkte ich etwas Seltsames: Die Frauen saßen nicht auf ihren gewohnten Plätzen. Mehr als die Hälfte nahm lächelnd und deutlich mir zugewandt die linke Seite des Tisches ein. Die anderen hockten eng beieinander auf der rechten Seite, die Lippen zusammengepresst. Unter ihnen Schwester Habondia.
    Nur Mutter Geraldine hatte sich auf ihrem üblichen Platz in der Mitte eingefunden. Im Anschluss an das Dankgebet stand sie auf und bediente uns nacheinander aus dem großen Kessel, der über der Feuerstelle hing. Während die Äbtissin damit beschäftigt war, richtete Schwester Habondia in der typischen Geste gegen den bösen Blick zwei Finger auf mich. Doch Geraldine bemerkte es, und obwohl die Klosterregeln das Sprechen während der Mahlzeiten untersagten, wandte sie sich strafend an Habondia: »Ihr seid entschuldigt, Schwester. Ich spreche später mit Euch. Geht jetzt in Eure Zelle und bittet Gott um Vergebung für das, was Ihr gerade getan habt.« Dann wandte sie sich mit ernster, aber undeutbarer Miene mir zu und fügte hinzu: »Ihr seid ebenfalls entschuldigt, Schwester Marie Franchise. Kommt mit.« Und wortlos drückte sie der verwunderten Marie Magdeleine die Schöpfkelle in die Hand.
    Ich folgte der Äbtissin mit vor Furcht weichen Knien. Doch nach all den Jahren im Konvent vertraute ich Mutter Geraldine, denn sie hatte mich immer gut behandelt.

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