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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Schweigend verließen wir das Refektorium durch die Küche. Zu meiner Überraschung führte mich die Äbtissin direkt in das Allerheiligste. Dort blieb sie vor dem Altar stehen, in den Schatten des späten Nachmittags und im Schein der Kerzen, die für die Seelen im Fegefeuer brannten, bekreuzigte sich und sank betend auf die Knie. Auch ich kniete auf dem kalten Steinboden -was hätte ich sonst tun sollen? Doch mir war bang ums Herz, denn ihre Miene blieb unergründlich und ernst. Nach geraumer Zeit erhob sich die Äbtissin, bekreuzigte sich und bedeutete mir, nachdem ich es ihr gleichgetan hatte, ihr zu folgen.
    Kurz darauf betraten wir den Krankensaal. Mutter Geraldine ging direkt zu Jacques' Lager und sagte fröhlich: »Lieber Jacques! Mein Freund!« Als wäre es das Natürlichste von der Welt, kniete sie vor ihm nieder, ergriff seine fingerlose Hand und küsste sie.
    »Liebe Mutter«, sagte er, sichtlich erfreut. »Und meine liebe Schwester Marie. Ihr solltet wissen, dass sie eine richtige Heilige ist, die uns Gott gesandt hat! Sie hat ein wahres Wunder vollbracht. Ich lag im Sterben, Mutter ...«
    Die Äbtissin wirkte merkwürdig beherrscht, als sie ihn unterbrach. »Lieber Freund, ich muss mich mit eigenen Augen von Eurer Genesung überzeugen, denn wenn wir unsere Schwester hier als Heilige verehren sollen, ist eine Zeugin vonnöten.«
    Mutter Geraldine beobachtete mit Erstaunen, wie Jacques sich ohne Krücken erhob und zu einem geöffneten Fenster humpelte. Nie werde ich den Anblick vergessen: Jacques, frei von seinen Krücken, die Silhouette der Nonne, die ihm nachblickt, umgeben vom roten Schein der untergehenden Sonne.
    Dann drehten sie sich wieder zu mir um, sodass ich endlich einen Blick auf das Gesicht der Äbtissin werfen konnte. Sie hatte die Lippen fest zusammengepresst und atmete heftig. Sie schien zutiefst gerührt, doch in meiner Beklemmung vermochte ich nicht zu sagen, ob ihr Verhalten Gutes oder Schlechtes für mich bedeutete. »Danke, mein Freund«, wandte sie sich an Jacques. Sobald er wieder bequem auf seiner Bettstelle lag, verabschiedeten wir uns.
    Jacques rief noch hinter uns her: »Gelobt sei der Herr! Gelobt sei der Herr, und möge er unsere Schwester Marie Francoise ewig segnen!«
    Die Äbtissin führte mich rasch und schweigend in ihre Zelle, den kleinsten und am spärlichsten eingerichteten Raum von allen. Obwohl die Nonnen in der Regel ihre Türen offen ließen, machte sie die ihre hinter uns zu. Endlich schaute sie mich offen an. »Es stimmt also«, sagte sie oder fragte es vielmehr, als wünschte sie meine Bestätigung, »was Schwester Habondia uns allen heimlich erzählt hat: Ihr wusstet, aus welchem Grund auch immer, dass Jacques' Wundbrand sich lebensgefährlich verschlimmert hatte, und als Ihr seine Füße umfasst habt, wurde er geheilt?«
    Wie hätte ich es leugnen sollen? Sie hatte sich mit eigenen Augen davon überzeugt und die Aussage von Schwester Habondia gehört, dass ich Jacques' Füße berührt hatte. Daher senkte ich den Blick und bestätigte: »Es stimmt. Aber es war Gottes Werk, nicht meins.«
    »Habondia ist davon überzeugt, es sei Hexerei gewesen«, entgegnete sie leise, und ein Schauder überlief mich. Ich schwieg verzweifelt und ließ den Kopf hängen, bis Mutter Geraldine schließlich die Stille unterbrach: »Es gibt viele Menschen wie sie, und in diesen gefährlichen Zeiten ist es besser, vorsichtig zu sein.«
    Hoffnung keimte in mir auf, und ich wagte es, sie anzusehen.
    Sie fuhr fort: »Vielleicht erinnert Ihr Euch noch an unsere erste Begegnung, als ich Euch sagte, ich hätte das Gefühl, es sei Gottes Absicht, dass sich unsere Wege kreuzten. Habt Ihr es für einen Zufall gehalten, eine Nonnentracht an einem Baum zu finden, noch dazu die einer Franziskanerin? Ich selbst habe sie dorthin gehängt.« Während ich noch verblüfft schwieg und versuchte, ihre Worte zu verarbeiten, fügte sie hinzu: »Ich hatte einen Traum. Ich träumte davon, Euch zu finden, die Ihr von Straßenräubern angegriffen wurdet. Ich träumte das heutige Ereignis. Es ist meine Bestimmung, Euch zu dienen, Schwester, so wie es Eure Bestimmung ist, hier weiter zu wirken, um noch weitaus Größeres zu erreichen.«
    Während sie sprach, sank ich auf die Knie, und meine weiße Ordenstracht raschelte. »Ich kann nicht - ich darf nicht ...«, flüsterte ich fast unhörbar und schlug die Hände vor die Augen. »Ich bin eine Schwindlerin, eine Lügnerin ... Ehrwürdige Mutter, ich bin keine

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