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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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nicht allein echtes Mitgefühl aus, sondern auch Scharfsinn - einen Scharfsinn, mit dem sie eines Tages, davon war ich überzeugt, meine Maske durchschauen und die Lügnerin dahinter entlarven würde.
    Schon am nächsten Tag hatte ich mich so weit erholt, dass ich mein Leben als Nonne beginnen konnte. Es war ganz anders, als ich es mir je vorgestellt hätte. Ich hatte immer gehört, es sei ein Leben schrecklicher Entbehrungen, mit Fasten und Geißelung, grausamen Strafen und nicht enden wollender Arbeit.
    Vielleicht war es das auch - für eine Adlige. Aber für die Tochter eines Bauern war es nahezu luxuriös. Ich hatte meine eigene Strohmatratze, meine eigene Zelle und genoss den unglaublichen Vorteil eines Abtritts im Gebäude, direkt auf dem Flur, in dem wir Schwestern untergebracht waren.
    Der Tagesablauf war ähnlich angenehm eingeteilt. Fünfmal am Tag trafen wir uns im Allerheiligsten, um auf Latein zu singen, zu beten und eine Lesung aus den Psalmen zu hören. Einmal am Tag kam ein Priester aus der Stadt, um das heilige Abendmahl zu zelebrieren.
    Die restlichen Stunden waren dem persönlichen Gebet vorbehalten, den Mahlzeiten morgens und abends, der Arbeit und dem Lernen. Arbeit nannten sie es, obwohl ich es eher als Entspannung empfand, verglichen mit der Feldarbeit oder der Tätigkeit als Hebamme. Wir pflegten die Kranken in jenem Teil des großen Klosters, der in einen Krankentrakt umgewandelt worden war. Dabei halfen uns ein paar Laienschwestern, denen die Pest den Gatten genommen hatte und die nun für Nahrung und Unterkunft auf das Kloster angewiesen waren. Da aber die ärmere Bevölkerung Carcassonnes bereits erheblich geschrumpft war, gab es nur noch wenige, um die wir uns kümmern mussten, selbst als Mutter Geraldine einen Flügel des Konvents jenen Leprakranken öffnete, die den Zorn des von der Heimsuchung durch die Pest aufgebrachten Pöbels überlebt hatten. Somit musste sich jede Nonne nur ein paar Stunden am Tag um die Kranken kümmern, und die Arbeitszeit aller Schwestern war gleich lang.
    Woran ich mich bei all dem Neuen am schlechtesten gewöhnen konnte, war die Gleichheit der Schwestern. Oft ertappte ich mich dabei, dass ich vor den Nonnen vornehmer Herkunft knicksen wollte, wenn ich sie grüßte, und es dauerte geraume Zeit, bis ich gelernt hatte, ihnen ohne Unterwürfigkeit zu begegnen. Das war das Erbe des heiligen Franziskus, der, wenngleich als Sohn eines wohlhabenden Kaufherrn geboren, alle Menschen, ob arm, ob reich, behandelt hatte, als stünden sie über ihm.
    Des Nachmittags verbrachte ich stets zwei Stunden, manchmal mehr, allein mit Mutter Geraldine und lernte Lesen und Schreiben, zuerst in Französisch, dann in Latein. Das geschriebene Wort ist etwas Wunderbares. Der ersten Lektion hatte ich mit Angst entgegengesehen - ich befürchtete, als Frau aus dem Bauernstand sei ich zu dumm dafür. Zu meiner Verwunderung nahm ich das Alphabet und seinen Klang rasch in mich auf, und nach etwas mehr als einer Woche konnte ich bereits kurze Wörter vorlesen. Die Äbtissin schrieb meine raschen Fortschritte der Tatsache zu, dass in meinem schlafenden Gedächtnis etwas aufgerührt würde, und ich ließ ihr diesen Glauben.
    Nach all dem Kummer und der Angst, die ich erlebt hatte, war der Konvent ein angenehmer, ruhiger Hafen. Die regelmäßigen Rituale gaben mir die Möglichkeit, mit der Göttin in Verbindung zu treten, und sie besänftigten bis zu einem gewissen Grad meinen Kummer, denn sie waren von jener Schönheit, die hilft, sich an das Schöne im Leben unserer geliebten Verstorbenen zu erinnern. Wer mich mit ruhiger, fast heiterer Miene beim Gebet gesehen hätte, der hätte mich für eine ebenso gute Christin wie die anderen gehalten.
    Doch wenn ich zur vorgeschriebenen Zeit in meiner einsamen Zelle kniete, so nur für den Fall, dass mich andere Nonnen beobachteten. Und wenn ich als gute Nonne den Rosenkranz vor mich hin murmelte, galt mein Gebet nicht nur der Mutter Jesu Christi, sondern der Mutter aller. Jeden Tag betete ich, und jeden Tag stellte ich dieselben Fragen:
    Was ist meine Bestimmung? Wann werde ich meinen Geliebten treffen?
    Im Gebet würde ich die Antworten finden, das wusste ich. Meine Großmutter war tot, doch sie hatte einen Samen gesät. Im fruchtbaren Boden des sicheren Klosters begann er zu keimen.
    Daher blieb ich im Nonnenkloster und lebte mit den anderen Schwestern gehorsam, arm und keusch, wie der heilige Franziskus es vorgeschrieben hatte. Man kann nur eine

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