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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Gesicht. »Der Bischof ist hier.«
    Hier? Mein Mund formte das Wort, doch ich konnte es nicht laut aussprechen.
    »Um Euch zu sehen. Ist das nicht wunderbar? Ich muss jetzt gehen, doch Ihr müsst mir später alles erzählen.« Sie verschränkte die Arme vor der Taille, sodass sie vollständig in den langen Ärmeln verschwanden, und eilte wieder zu den Kranken zurück.
    Wie betäubt machte ich ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung, bis meine Beine nachgaben und ich auf die Knie sank, die Hand an die Wand gestützt. Ich bekam keine Luft mehr. Genau davor hatte ich mich gefürchtet, aber wenigstens würde niemand Geraldine verdächtigen. Wäre ich stark genug, wenn sie mich folterten, ihren Namen nicht zu nennen, oder den Namen der anderen Schwestern?
    Göttin, hilf mir, betete ich im Stillen, während mir der Kopf bedrückt auf die Brust sank. Und die Inbrunst, die Verzweiflung und der Wille in diesen drei Wörtern war so stark, dass ich wusste, sie wurden erhört. Ein paar Atemzüge verharrte ich kniend und versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen. Jeder Fluchtversuch würde meine Schuld nur besiegeln. Zudem warteten ohne Zweifel des Bischofs Wagen, seine Pferde und Diener vor dem Kloster.
    Mir blieb nichts anderes übrig, als mich meinen Befragern zu stellen. Dann konnte ich zumindest Unschuld vortäuschen und die Verantwortung für die Heilung dem christlichen Gott zuschreiben. Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, seufzte ich einmal aus tiefstem Herzen, und als ich den Kopf hob, standen Mutter Geraldine und der Bischof dicht vor mir. Der Bischof war eine eindrucksvolle Gestalt, ein alter Mann mit gelblichen Wangen und tiefen Ringen unter weltverdrossenen, schwerlidrigen Augen. Er hielt sich krumm und war entsetzlich dürr, als würde die Verantwortung an ihm zehren, die auf ihm lastete. An jenem Tag trug er zur Bischofsmütze die einfache Kutte eines Priesters. »Schwester Marie Franchise«, begann Mutter Geraldine seltsam förmlich und distanziert. »Ihr kennt den Bischof.« Ja, ich kannte ihn. Er hatte uns in den vergangenen Jahren des Öfteren in seiner offiziellen Eigenschaft besucht, um die Finanzen des Konvents zu prüfen und mit uns den Jahrestag der Ankunft der Franziskanerinnen in Carcassonne zu begehen.
    »Schwester«, grüßte er mit altersschwacher Stimme und trat einen Schritt vor, mir seinen Ring darbietend. Ich sank vor ihm auf die Knie, um den goldenen Reif mit dem kostbaren Edelstein zu küssen. Nachdem ich dem Ritual Genüge getan hatte, nahm er meine Hand und half mir auf. »Kommt«, bat er, und wir gingen in Mutter Geraldines kleine Schreibstube. Uns Frauen ließ er zuerst eintreten, dann schloss er die Holztür und baute sich mit dem Rücken davor auf, eine Hand auf dem Eisenriegel. Eine ganze Weile sagte er kein Wort, sondern schaute mich nur mit beunruhigender Schärfe prüfend an. Seine Augen waren klug, stechend, sein Blick hätte bewundernd sein können, oder der eines Rabens, der einen Kadaver beäugt, bevor er ihn verspeist.
    »So berichtet mir, wie es dazu kam, dass der Leprakranke geheilt wurde.« Sein Ton war sanft, beinahe ermutigend. Ich nahm all meinen Mut zusammen und erzählte ihm mit respektvoll gesenktem Blick in einfachen Worten, was geschehen war: Jacques sei offensichtlich sehr krank gewesen, der Wundbrand drohte ihn zu töten. Ich hätte seine Füße umfasst, worauf er wie durch ein Wunder geheilt worden sei. Ich betonte, Gott sei dafür verantwortlich, nicht ich, und ich hätte keine Ahnung, wie es geschehen konnte. Ich sei nur eine bescheidene Nonne, noch dazu keine sehr gute; Gott habe es nicht gefallen, mich seither wieder als sein Werkzeug zu benutzen. Der alte Mann hörte sich das alles schweigend an. Doch je mehr ich redete, umso mehr hatte ich das Gefühl, er hörte mir überhaupt nicht zu, sondern beobachte mich nur. Das zermürbte mich mehr als jede Anschuldigung. Mitten in meiner Geschichte brach ich ab, denn ich hatte vergessen, was ich als Nächstes sagen wollte. Einen Augenblick lang stand ich verwirrt da und war nicht imstande, zu sprechen, doch durch die Gnade der Göttin erholte ich mich und stammelte den Rest der Geschichte hervor. Noch immer hüllte er sich in Schweigen, so lange, dass ich es schließlich wagte, aufzublicken.
    Missbilligend runzelte er die Stirn. »Schwester Habondia behauptet, es wäre Hexerei gewesen, Eure Hände wären von einem merkwürdigen Glanz umgeben gewesen, heller als der Tag. Was könnt Ihr auf diese

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