Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Verrat, dass ich auf dem Weg dorthin nicht sprechen konnte, es nicht einmal ertrug, sie anzuschauen. Die Wunde, die sie mir zugefügt hatte, war tief, doch tiefer noch war in jenem Augenblick meine Verwirrung. Sie gehörte ohne Zweifel dem Geschlecht an, hatte liebevoll vom Opfer meiner Großmutter gesprochen, hatte von meiner bevorstehenden Ankunft gewusst und das Habit einer Nonne an einen Baum gehängt, damit ich es fand. Wie konnte sie nur so grausam sein, mich an den Bischof zu verraten? Ich konnte es nicht fassen.
Wir gingen schweigend nebeneinander her, ohne dass Geraldine mir eine Erklärung für ihre Untreue anbot. Und als wir schließlich vor meiner kleinen Zelle ankamen, ging ich ohne Widerspruch hinein und ließ mich auf Knie und Fersen nieder. Die Äbtissin aber sagte ohne jede Scham oder Häme, sondern mit Leichtigkeit, als wäre nichts Schreckliches zwischen uns geschehen: »Wartet hier. Ich gehe und rufe eine Schwester, die heute Nacht draußen vor Eurer Tür wacht.«
Ihre Bereitschaft, mich alleine zu lassen, trug nur noch mehr zu meiner Verwirrung bei. Vertraute sie so sehr darauf, dass ich nicht fliehen würde - was ich natürlich nicht tun würde, solange der Wagen des Bischofs nicht abgefahren war? Glaubte sie wirklich, eine einzelne Schwester würde ausreichen, mich zurückzuhalten? Denn auch wenn ich klein war, so war ich doch kräftig und stärker als die meisten Schwestern, die mich um einiges überragten. Außerdem verfügte ich über magische Kräfte.
Oder war das ein Versuch, mich zur Flucht zu verleiten, womit meine Schuld erwiesen und mein Schicksal rasch besiegelt wäre?
Nachdem Mutter Geraldine gegangen war, verharrte ich über eine Stunde mit zum Zerreißen gespannten Nerven, bis die sanftmütige Schwester Barbara sich einfand. Nur allzu gut konnte ich mich an die wütenden Flammen erinnern, die ich sowohl gesehen als auch an Nonis statt erlitten hatte, und ich wusste, ich könnte es nicht ertragen, mich ihnen noch einmal auszusetzen. Beim Gedanken daran zitterte ich ununterbrochen am ganzen Körper.
Noni konnte ich klar und deutlich erkennen, wie sie ihrem Peiniger zurief, der sie in den Tod geschickt hatte: Domenico ...
Der Feind, sagte ich mir zitternd. Ich bin dem Feind in die Hände gefallen, jenen, die das Geschlecht vernichten wollen. Ich musste um jeden Preis entkommen ... Doch die ganze Zeit flüsterte mir meine innere Stimme zu, es sei noch nicht an der Zeit, diesen Ort zu verlassen, denn ich gehörte hierher.
So hockte ich stundenlang auf dem kalten Stein, während das Licht des Tages schwand. Als die Nacht hereinbrach, brachte Habondia zwei brennende Öllampen. Die eine reichte sie Schwester Barbara, die andere behielt sie selbst. Ausnahmsweise bedachte sie mich nicht mit unheilvollen Blicken, sie vermied es vielmehr, mich anzusehen, und nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, eilte sie sofort davon.
In der Nacht blieb ich ganz ruhig, bis auf ein paar Mal, wenn die Furcht mich überwältigte und ich zitternd dalag. Nach wie vor war ich hin- und hergerissen: Einerseits war ich entschlossen, zu fliehen, sobald Schwester Barbara eingeschlafen wäre, andererseits wollte ich mich nicht von der Stelle rühren, da ich spürte, dass die Ereignisse dem Willen der Göttin entsprachen.
Doch irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem mein Körper jeden weiteren Gedanken an Feuer und Tod verweigerte, obwohl Schwester Barbara bis spät in die Nacht hinein eisern wach blieb. Bald war es Zeit für die Laudes, zu der die Nonnen sich noch bei Dunkelheit zum Gebet erhoben, um sich anschließend noch einmal schlafen zu legen. In meiner Verzweiflung beschloss ich, meine unwissende Bewacherin mit einem Zauber zu bannen.
Ein seltsames Gefühl der Macht überkam mich, denn ich wusste genau, dass ich Schwester Barbara niederstrecken konnte, wenn ich es nur wollte, ebenso wie ich imstande gewesen war, Jacques zu heilen. Deutlich sah ich in einer Vision, wie ich sie zum Schweigen bringen und ihre Gliedmaßen lähmen konnte, damit sie mich nicht verfolgte. Einen Moment lang habe ich diese Möglichkeit wirklich in Betracht gezogen, doch dann verspürte ich einen unsäglichen Abscheu davor. Gleichwohl wollte meine Angst mir nicht erlauben zu bleiben, und so schuf ich eine Kugel, die ihren Körper umschloss. In dieser Kugel fielen glitzernde Juwelen sanft wie Schnee hernieder, besänftigende Flocken, die Schlaf mit sich brachten. Der Zauber gelang mir auf Anhieb, und ich fragte mich, wieso ich mich
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