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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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ich, dass er weit über seine Jahre hinaus gealtert war; seine Haut war aschfahl, die Wangen eingefallen. Er stützte sich schwer auf einen Stock und versuchte aufzustehen, als er uns sah, doch seine Gliedmaßen zitterten so stark, dass er aufgab. Mein Vater setzte sich neben ihn, und die beiden sprachen leise und eindringlich miteinander. Während ich sie beobachtete, fiel mein flüchtiger Blick auf eine vertraute Gestalt hinter ihnen: Michelangelo. In maßgeschneidertes Schwarz gekleidet, hatte er sich offenkundig den Reihen der piagnoni angeschlossen: Die Strenge seiner Kleidung betonte das Dunkel seiner Augen, seiner Haare, die auffallend hohe, bleiche Stirn und den kurzen Kiefer. Als er mich sah, schlug er die Augen nieder, als wäre er verlegen.
    Ich kann nicht sagen, wie lange wir warteten, bis die Messe anfing; ich weiß nur, dass viel Zeit verstrich, in der ich oft für Giuliano betete. Um sein Leben fürchtete ich viel mehr als um mein eigenes.
    Endlich begann die Prozession. Weihrauchdunst waberte durch die Luft. Die Gemeinde, der Chor, selbst der Priester wirkten wie betäubt. Wir durchliefen das Ritual nur halbherzig, murmelten Antworten, ohne sie zu hören und ohne über ihre Bedeutung nachzudenken. Unsere Gedanken waren nur auf eine Sache konzentriert: das Erscheinen des Propheten.
    Selbst ich - die Sünderin und Skeptikerin, welche die Medici und ihre heidnische Kunst liebte - fand es unmöglich, der erwartungsvollen Qual zu widerstehen. Als der Prophet schließlich die Stufen zum Podium erklomm, hielten wir den Atem an - ich, Pico, mein Vater, Zalumma und alle anderen in der Kathedrale, der Priester eingeschlossen. Die Stille in jenem Moment schien unglaublich in Anbetracht der Tatsache, dass mehr als tausend Seelen Schulter an Schulter im Heiligtum saßen und mehrere Tausend sich draußen auf den Stufen und der Piazza drängten; das einzige Geräusch, als Savonarola die Versammelten überblickte, war fernes Donnergrollen.
    Nach monatelangem Fasten in Einsamkeit war Fra Girolamo gespenstisch bleich, seine Wangenknochen traten erschreckend hervor. An diesem Tag lag keine Zuversicht in seinen großen Augen, keine Rechtschaffenheit, nur Erregung und Sorge; seine hervorstehende Unterlippe bebte, als habe er Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Seine Schultern sackten nach vorn, und seine Hände griffen verzweifelt nach den Kanten des Lesepults, als habe er eine unerträgliche Bürde zu tragen.
    Was immer er auszusprechen hatte, war eine entsetzliche Last für ihn. Er fuhr sich mit knochigen Fingern durch die ungekämmten schwarzen Locken, krallte sich fest hinein und stöhnte laut auf.
    Die lange Stille danach war schmerzhaft. Zuletzt hatte uns der Prophet die Geschichte von Noah erzählt und uns gedrängt, an Bord von Gottes Arche zu gehen, um Schutz vor der bevorstehenden Sintflut zu suchen. Was würde er jetzt sagen?
    Schließlich machte er den Mund auf und rief mit ebenso herzzerreißender wie schriller Stimme: »Ecce ego adducam diluvii aquas super terram. Denn siehe, ich will eine Sintflut mit Wasser kommen lassen auf Erden!«
    Schreie hallten im großen Heiligtum wider. Vor uns und neben uns fielen Männer und Frauen in Ohnmacht und glitten von ihren Sitzen zu Boden. Zalumma packte meine Hand und drückte sie fest; sie tat mir weh, als sollte ich durch den Schmerz wieder zu mir kommen, als wollte sie sagen: Lasst Euch nicht da reinziehen. Werdet nicht Teil dieses Wahns.
    Mein Vater und Pico zu meiner Rechten begannen zu weinen - mein Vater still, Pico schluchzte aus tiefstem Herzen. Sie waren nicht die Einzigen; schon bald war die Luft erfüllt von Jammern und erbärmlichen Ausrufen nach Gott.
    Auch der Prophet konnte nicht länger an sich halten. Er bedeckte sein reizloses Gesicht mit beiden Händen und weinte, den Körper vor Kummer gekrümmt.
    Es dauerte eine Weile, bis Fra Girolamo und seine Zuhörer sich gefangen hatten; an das, was er danach sagte, kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass mir zum ersten Mal der Gedanke kam, die Stadt Florenz, so wie ich sie kannte, könnte verschwinden - und mit ihr Giuliano.

38
    In jener Nacht, als ich schließlich eingeschlafen war, stand ich im Traum in der Basilika von San Marco in der Nähe des Altars, wo Cosimo beigesetzt war. Das Gebäude war vollkommen überfüllt, die Menschen derart versessen darauf, den Propheten zu hören, dass sich heiße, schwitzende Körper an mich drückten - immer fester, bis ich kaum noch atmen konnte.
    Mitten in

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