Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
dieser schrecklichen Unannehmlichkeit wurde mir bewusst, dass der große massige Leib, der sich an meine linke Seite lehnte, Fra Domenico gehörte. Ich versuchte, angewidert und hasserfüllt zurückzuweichen, doch gesichtslose Gestalten schoben sich gegen mich, hielten meine Arme fest, sodass ich mich nicht vom Fleck rühren konnte.
    »Lasst ihn gehen!«, rief ich, ohne mir bewusst zu sein, dass ich schrie, noch was meine Worte, bis sie ausgesprochen waren, bedeuteten - denn just in diesem Moment erblickte ich meinen Giuliano. Der stämmige Mönch hatte ihn sich über die breite Schulter geworfen, sein Kopf hing halb auf Domenicos Knie herab, sein Gesicht war nicht zu sehen.
    Überwältigt vom Zusammenprall der Leiber und von Entsetzen gepackt, rief ich Fra Domenico erneut zu: »Lasst ihn gehen!« Doch der Koloss schien ebenso taub wie stumm. Er blickte starr nach vorn auf die Kanzel, während Giuliano, noch immer kopfüber herunterbaumelnd, die Haare aufgelöst, die Wangen gerötet, mir das Gesicht zuwandte.
    »Alles wiederholt sich, Lisa, siehst du es nicht?« Er lächelte besänftigend. »Alles wiederholt sich.«
    Vor Panik am ganzen Leib zitternd, schrak ich aus dem Schlaf. Zalumma stand neben meinem Bett und schnalzte mit der Zunge. Offenbar hatte ich laut geschrien.
    Von diesem Moment an kam ich mir vor wie Paulus von Damaskus: Die Schuppen waren mir von den Augen gefallen, und ich konnte nicht länger so tun, als sähe ich nicht. Giuliano und seine Familie steckten in einer äußerst prekären Lage. Florenz schwankte am Abgrund des Wandels, und ich konnte nicht abwarten, bis die Umstände wieder günstiger wurden. Womöglich würde das nie geschehen.
    Der heraufziehende Morgen schenkte mir genügend Licht, sodass ich einen weiteren Brief schrieb, der wiederum nur aus einem Satz bestand.
    Nenn mir einen Ort und einen Zeitpunkt - oder nicht, wenn du mich nicht haben willst; so oder so, ich komme bald zu dir.
    Diesmal wollte ich selbst Zalumma nicht sagen, was er enthielt.
    Eine Woche verging. Mein Vater, dem es Spaß machte, mir über Piero de' Medicis Misserfolge zu berichten, wartete mit Neuigkeiten auf: Ein Gesandter Karls war in die Stadt gekommen und hatte die Signoria aufgefordert, dem französischen König freien Durchmarsch durch Florenz zu gewähren. Er verlangte eine sofortige Antwort, da der König bald einträfe.
    Die Signoria hatte keine parat, da die Mitglieder verpflichtet waren, zunächst Pieros Entscheidung abzuwarten; und Piero, der noch immer zwischen widersprüchlichen Ratschlägen schwankte, war zu einer umgehenden Antwort nicht imstande.
    Empört verließ der Gesandte die Stadt - und innerhalb eines Tages wurden alle florentinischen Kaufleute aus Frankreich verbannt. Läden auf der Via Maggio, die vom Geschäft mit Frankreich abhingen, mussten auf der Stelle schließen.
    »Die Leute können ihre Familien nicht ernähren«, sagte mein Vater. Seitdem sein eigenes Geschäft gelitten hatte, waren auch wir tatsächlich gezwungen, uns mit kleineren Rationen zu begnügen; auf den Verzehr von Fleisch verzichteten wir schon lange. Seine Arbeiter - die Scherer und Wollkämmer, die Spinner und Färber - mussten Hunger leiden.
    Das alles war Piero de' Medicis Schuld. Um einen Aufstand zu verhindern, hatte er die Wachen verdoppelt, die vor dem Sitz der Regierung standen, dem Palazzo della Signoria, und diejenigen, die sein Haus schützten.
    Geduldig hörte ich mir die Schimpftirade meines Vaters an; ich vernahm das Murren unserer Dienerschaft im Haus und blieb ungerührt.
    Selbst Zalumma sah mich vielsagend an und meinte: »Es ist heutzutage nicht ungefährlich, mit den Medici befreundet zu sein.«
    Es war mir einerlei. Mein Plan war gefasst, und die Durchführung stand kurz bevor.
39
    Gegen Ende Oktober ritt Piero - endlich seine Berater missachtend - drei Tage lang nach Norden, begleitet nur von wenigen Freunden. Sein Ziel war die Festung von Sarzana, in der König Karl mit seinen Truppen lagerte. Das Beispiel des verstorbenen Lorenzo vor Augen, der einst allein König Ferrante aufgesucht und mit einzigartigem diplomatischem Geschick einen Krieg mit Neapel abgewendet hatte, hoffte Piero, seine mutige Geste würde Florenz in ähnlicher Weise vor dem Schicksal der Stadt Rapallo bewahren.
    Nun, da Piero fort war, fühlte sich die Signoria frei, ihren gegensätzlichen Standpunkt noch deutlicher auszusprechen. Sieben Abgesandte zogen hinter Piero her nach Norden in der Absicht, ihn einzuholen und jede

Weitere Kostenlose Bücher