Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Zeit des Propheten läuft zu schnell ab, und meine eigene ist noch nicht gekommen. Ich kann mich nicht mehr auf päpstliche Truppen verlassen; ich habe nicht genug Freunde in der Signoria. Aber ich werde die Hoffnung nicht aufgeben! Es gibt immer einen Weg. Gebt dem Propheten sein Wunder.
Wenn das misslingt, dann müssen wir rasch einen Weg finden, uns und unsere Ziele der Signoria und dem Volk schmackhaft zu machen. Falls Savonarola die Rolle des Teufels übertragen bekommt, dann muss ich als Retter präsentiert werden. Denkt darüber nach und teilt mir Eure Gedanken mit.
Im Atelier der Santissima Annunziata betrachtete ich das Porträt auf der Staffelei. Die Farbe musste noch trocknen - eine Schicht aus sehr hellem Perlmuttrosa, das meine Wangen und Lippen leicht erblühen ließ -, sodass ich nicht wagte, es zu berühren, obwohl mein Finger sehnsüchtig über einem Punkt in meiner Halsbeuge schwebte.
»Hier ist ein bisschen Blau«, sagte ich. »Und Grün«; die leiseste Andeutung einer unter der Haut lauernden Ader. Ich verfolgte die Linie mit dem Finger; ich hatte das Gefühl, wenn ich ihn auf das Bild legen könnte, würde ich meinen eigenen Puls spüren. »Es sieht aus, als wäre ich lebendig.«
Leonardo lächelte. »Ist es Euch vorher nicht aufgefallen? Zuweilen glaube ich, es schlagen zu sehen. Eure Haut ist dort recht durchscheinend.«
»Natürlich nicht. Ich habe noch nie so lange in einen Spiegel gesehen.«
»Schade«, sagte er ohne jeglichen Spott. »Es hat den Anschein, als wüssten diejenigen, die die größte Schönheit besitzen, sie nicht im Geringsten zu schätzen.«
Er war so ehrlich, dass ich verlegen wurde; ich wechselte hastig das Thema. »Ich werde jetzt Modell sitzen.«
Und wie immer, bevor ich Platz nahm, zitierte ich den Brief. Er hörte zu, runzelte leicht die Stirn, und als ich fertig war, sagte er: »Sie verzweifeln allmählich. Wenn Savonarola sein Wunder nicht bekommt, werden sie ihn den Wölfen zum Fraß vorwerfen und eine andere Strategie verfolgen. Er wird nie aufgeben.«
»Und er - wer immer es ist - will Florenz in seine Gewalt bringen.« Ich machte eine Pause. »Wer ist er? Ich weiß bereits, dass es einer der Pazzi ist, aber ich will verstehen, warum er so erpicht auf Macht ist.«
Leonardo ließ sich Zeit mit der Antwort.
Ich drängte ihn. »Was kann es mir schaden, wenn ich das weiß? Wenn sie mich in die Hände bekommen, werde ich höchstwahrscheinlich allein deshalb umgebracht, weil ich von diesen Briefen Kenntnis habe. Schließlich weiß ich, dass dieser Mann den Papst töten wollte, und ich weiß, dass Ascanio Sforza und sein Bruder Ludovico darin verwickelt sind.«
Er betrachtete mich einen Augenblick und stieß dann einen kleinen Seufzer aus. Wir wussten beide, dass ich recht hatte. »Sein Name ist Salvatore. Er ist der uneheliche Sohn von Francesco de' Pazzi«, antwortete er. »Er war zur Zeit des Mordes an Giuliano etwa zehn Jahre alt, als viele seiner Familienmitglieder von Lorenzo hingerichtet, die anderen vertrieben wurden. Sie verloren alles: ihre Besitztümer, ihre Ländereien ... Er floh mit seiner Mutter nach Rom.
Die meisten Pazzi sind gute, ehrbare Leute; Lorenzo hat ihnen furchtbar unrecht getan, und es hat viel Verbitterung gegeben. Aber sie wollten einfach nur nach Florenz zurückkehren, in die Heimat ihrer Vorfahren.
Was Salvatore betrifft - seine Mutter hat ihm von Kindesbeinen an glühenden Hass und Verbitterung eingebläut. Er war sehr frühreif und ehrgeizig; er beschloss schon in jungen Jahren, Florenz aus Rache für die Pazzi einzunehmen.«
»Alles wiederholt sich«, sagte ich. »Lorenzo hat Rache genommen, und jetzt wollen die Pazzi es ihm gleichtun.«
»Nicht alle. Nur Salvatore. Er hat sich die Stellung der Familie als päpstliche Depositare zunutze gemacht, um sich beim Papst einzuschmeicheln.«
Verblüfft beugte ich mich vor. »Warum ... Warum sollte er sich dann auf Savonarola einlassen?«
Leonardo setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. »Das ist eine sehr lange Geschichte. Sie fing an mit Giovanni Pico. Als junger Mann war er ein Schürzenjäger und leidlicher Philosoph. Der Papst wollte ihn wegen seines ziemlich unchristlichen Synkretismus unbedingt exkommunizieren - er hat sogar daran gedacht, ihn auf dem Scheiterhaufen hinrichten zu lassen.
Lorenzo de' Medici schließlich hat seine ganze Diplomatie aufgewandt, um ihn im Jahre 1490 zu retten, lange bevor sich die Beziehungen der Medici zum Heiligen Stuhl verschlechterten.
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