Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Lorenzo Leonardo in seinem Arbeitszimmer, umgeben von Kunstwerken von unglaublicher Schönheit. Er schaute zu Leonardo auf. Seine Augen waren umwölkt von Schuld und Trauer - und doch konnten sie sein Interesse an dem, was der Künstler zu sagen hatte, nicht verbergen.
Am Morgen des sechsundzwanzigsten April hatte Leonardo in der Kathedrale Santa Maria del Fiore nur wenige Reihen vom Altar entfernt gestanden. Er hatte Fragen an Lorenzo gehabt über einen gemeinsamen Auftrag, den er und sein ehemaliger Lehrer Andrea Verrocchio erhalten hatten. Sie sollten eine Büste von Giuliano anfertigen, und er hatte gehofft, il Magnifico nach dem Gottesdienst abzupassen. Leonardo besuchte eine Messe nur, wenn er Geschäfte zu tätigen hatte; vor der Natur hatte er viel größere Ehrfurcht als vor einer von Menschenhand erbauten Kathedrale. Mit den Medici stand er auf sehr gutem Fuß. In den vergangenen Jahren hatte er sich monatelang als einer der vielen Künstler im Dienst der Familie in Lorenzos Haus aufgehalten.
Zu Leonardos Überraschung war Giuliano an jenem Morgen nicht nur verspätet in den Duomo gekommen, sondern auch noch ungepflegt und außerdem in Begleitung von Francesco de' Pazzi und seinem Untergebenen.
Leonardo fand an Männern und Frauen gleichermaßen Gefallen, beide waren seiner Liebe wert, er zog es jedoch vor, ein asketisches Leben zu führen. Ein Künstler konnte nicht zulassen, dass die Stürme der Liebe seine Arbeit störten. Frauen mied er besonders, denn die Anforderungen von Frau und Kindern würden seine Studien - der Kunst, der Welt und ihrer Bewohner - unmöglich machen. Er wollte nicht so werden wie sein Meister Verrocchio - der verschwendete seine Begabung, nahm jede beliebige Arbeit an, sei es die Anfertigung von Karnevalsmasken oder die
Vergoldung von Damenschuhen, um seine hungrige Familie zu ernähren. Er hatte nie Zeit zu experimentieren, zu beobachten und seine Fähigkeiten zu vervollkommnen.
Ser Antonio, Leonardos Großvater, hatte ihm als Erster seinen Plan erklärt. Antonio hatte seinen Enkel zutiefst geliebt, ohne der Tatsache Beachtung zu schenken, dass er der uneheliche Abkömmling einer Dienerin war. Als Leonardo heranwuchs, erkannte nur sein Großvater die Begabung des Jungen und schenkte ihm ein Buch aus Papier und Kohlestifte. Als Leonardo sieben Jahre alt war, hatte er mit einem Silberstiftgriffel und einer groben Holztafel im kühlen Gras gesessen und beobachtet, wie der Wind durch die Blätter eines Olivenhains fuhr. Ser Antonio - immer beschäftigt, hoch aufgerichtet und mit scharfen Augen trotz seiner achtundachtzig Jahre - war neben ihm stehen geblieben und hatte mit ihm die glitzernden Bäume betrachtet.
Plötzlich und unerwartet sagte er: Achte nicht auf Sitten und Gebräuche, mein Junge. Ich hatte nur halb so viel Talent wie du -ja, ich konnte gut zeichnen und war ebenso begierig wie du, zu erfahren, wie die Welt der Natur funktioniert —, doch ich hörte auf meinen Vater. Bevor ich auf den Hof kam, war ich als Notarslehrling bei ihm.
Das sind wir - eine Notarsfamilie. Einer hat mich gezeugt, und deshalb habe ich auch einen gezeugt - deinen Vater. Was haben wir der Welt gegeben? Verträge und Wechsel, Unterschriften auf Dokumenten, die zu Staub zerfallen werden.
Ich habe meine Träume nicht vollständig aufgegeben; auch als ich den Beruf erlernte, habe ich insgeheim gezeichnet. Ich habe Flüsse und Vögel betrachtet und mich gefragt, wie sie funktionierten. Doch dann habe ich deine Großmutter Lucia kennengelernt und mich verliebt. Das war das Schlimmste, was mir passieren konnte, denn ich habe Kunst und Wissenschaft aufgegeben und geheiratet. Dann waren Kinder da, und ich hatte keine Zeit, Bäume zu betrachten. Lucia fand meine Skizzen und warf sie ins Feuer.
Du aber bist uns von Gott geschenkt - du mit deinem erstaunlichen Geist, deinen Augen und Händen. Du hast die Pflicht, sie nicht aufzugeben.
Versprich mir, dass du meinen Fehler nicht wiederholst; versprich mir, dass du dich nie von deinem Herzen verführen lassen wirst.
Der junge Leonardo hatte es versprochen.
Doch als er ein Protege der Medici wurde und ihrem engsten Kreis angehörte, fühlte er sich körperlich und emotional zu Lorenzos jüngerem Bruder hingezogen. Giu-liano war unendlich liebenswert. Es war nicht nur die außergewöhnliche Erscheinung des Mannes - Leonardo selbst war viel reizvoller und wurde von seinen Freunden häufig »schön« genannt -, sondern vielmehr die reine Güte seiner
Weitere Kostenlose Bücher