Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Hölle zu kommen. Er hatte den Kopf gesenkt, und die schmalen Lippen waren schuldbewusst nach unten gezogen. Das war ein Mann, der sich selbst verabscheute.
Der Künstler musste mit sich ringen, um seinem Hass nicht nachzugeben, obgleich er persönliche Gründe hatte, Baroncelli zu verachten. Doch Hass widersprach seinen Prinzipien, weshalb er ihn - ebenso wie den Schmerz in seinen Fingern und seinem Herzen - ignorierte und mit der Arbeit fortfuhr. Auch Töten fand er unmoralisch -selbst die Hinrichtung eines Mörders wie Baroncelli.
Routiniert kritzelte er Notizen auf die Seite, mit denen er die entsprechenden Farben und Strukturen festhielt, denn die Wahrscheinlichkeit, dass aus der Skizze ein Gemälde wurde, war sehr hoch. Er schrieb von rechts nach links, die Buchstaben ein Spiegelbild der allgemein gebräuchlichen Schrift. Jahre zuvor, als er noch Schüler in Andrea Verrocchios Werkstatt war, hatten ihn andere Künstler der ungerechtfertigten Geheimniskrämerei bezichtigt, denn als er ihnen seine Skizzen zeigte, konnten sie mit seinen Notizen nichts anfangen. Er schrieb jedoch so, weil es ihm beinahe natürlich erschien; die damit verbundene Geheimhaltung war ein unbeabsichtigter Vorteil.
Kleine gelbbraune Mütze. Die Feder kratzte auf dem Papier. Schwarzer Seidenwams, schwarz gefüttertes Gewand, dunkelblau eingefasste Jacke, und der Jackenkragen mit schwarzen und weißen Seidenstreifen eingefasst. Bernardo di Bandino Baroncelli. Schwarzer Schuh. Baroncelli hatte im Todeskampf einen Schuh abgestreift.
Stirnrunzelnd betrachtete der Künstler Baroncellis Eigennamen, der vom Namen seines Vaters abgeleitet worden war. Der Künstler war Autodidakt und hatte noch Mühe, seinen ländlichen Dialekt aus Vinci zu überwinden.
Die Rechtschreibung machte ihm zu schaffen. Es spielte keine Rolle. Lorenzo de' Medici, il Magnifico, war am Bild interessiert, nicht an Worten.
Unten auf der Seite skizzierte er kurz Baroncellis Kopf in einem Winkel, der die düsteren Gesichtszüge noch besser zur Geltung brachte. Zufrieden mit seiner Arbeit machte er sich an seine eigentliche Aufgabe, die Gesichter in der Menge abzusuchen. Die vorderen Reihen - der Adel und die wohlhabenderen Kaufleute - lösten sich gerade auf, still und ernst. Der populo minuto, das niedere Volk, blieb zurück und vergnügte sich damit, den Leichnam zu beschimpfen und mit Steinen zu bewerfen.
Der Künstler beobachtete aufmerksam möglichst viele Männer, als sie die Piazza verließen. Dafür gab es zwei Gründe: Der naheliegendste und offenkundigste war, dass er Gesichter erforschte. Alle, die ihn kannten, waren an seine durchdringenden Blicke gewöhnt.
Der insgeheime Anlass war das Ergebnis einer Begegnung mit Lorenzo de' Medici. Er suchte nach einem besonderen Gesicht, das er zwanzig Monate zuvor nur ganz kurz gesehen hatte. Trotz seiner Begabung, sich Physiognomien zu merken, war seine Erinnerung nebulös - doch sein Herz war gleichermaßen darauf bedacht, das Ziel zu erreichen. Diesmal war er entschlossen, sich nicht von Emotionen überwältigen zu lassen.
»Leonardo!«
Als er seinen Namen hörte, zuckte der Künstler zusammen; unwillkürlich fuhr er herum und klappte reflexartig den Deckel des Tintenfläschchens zu, damit nichts verschüttet würde.
Ein alter Freund aus Verrocchios Werkstatt wollte gerade die Piazza verlassen und kam auf ihn zu.
»Sandro«, sagte Leonardo, als sein Freund schließlich vor ihm stand. »Du siehst aus wie ein Prior.«
Sandro Botticelli schmunzelte. Mit fünfunddreißig war er ein paar Jahre älter als Leonardo und stand in der Blüte seines Lebens ebenso wie seiner Laufbahn. Er war in der Tat prächtig gekleidet in scharlachrotem, mit Pelz gefüttertem Umhang; eine schwarze Samtkappe bedeckte sein goldblondes Haar, das ihm bis zum Kinn reichte, kürzer als es modern war. Wie Leonardo war auch er glatt rasiert. Seine grünen Augen lagen unter schweren Lidern und strahlten eine Überheblichkeit aus, die sein Verhalten schon immer gekennzeichnet hatte. Trotzdem mochte Leonardo ihn; er besaß großes Talent und ein gutes Herz. Im vergangenen Jahr hatte Sandro mehrere Großaufträge von den Medici und den Tornabuoni erhalten, darunter auch das riesige Gemälde Primavera, das ein Hochzeitsgeschenk von Lorenzo an seinen Vetter werden sollte.
Sandro nahm Leonardos Skizze mit hintergründigem Humor in Augenschein. »So, so. Ihr versucht, mir meine Stelle abspenstig zu machen, ich sehe schon.«
Damit bezog er sich auf das
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