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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Seele.
    Das behielt Leonardo für sich. Er wollte Giuliano, den Liebhaber von Frauen, nicht in Verlegenheit bringen; auch Lorenzo, seinen Gastgeber und Förderer, wollte er nicht schockieren.
    Als Giuliano im Duomo auftauchte, konnte Leonardo den Blick nicht von ihm abwenden. Er stand nur zwei Reihen hinter ihm, denn er hatte sich so nah wie möglich an Lorenzo herangearbeitet, um ihn nach der Messe besser abfangen zu können. Giulianos Niedergeschlagenheit war ihm aufgefallen, woraufhin sich weder Mitleid noch Sympathie in ihm regten, sondern heftige Eifersucht.
    Am Abend zuvor hatte sich der Künstler auf den Weg gemacht, um mit Lorenzo über den Auftrag zu reden.
    Er war über die Via de' Gori gekommen, vorbei an der Kirche San Lorenzo. Der Palazzo Medici lag direkt vor ihm zu seiner Linken, er trat auf die Straße und ging darauf zu.
    Es war in der Abenddämmerung. Im Westen standen der hohe, schmale Turm des Palazzo della Signoria und die große, geschwungene Kuppel des Duomo, die sich deutlich vor einem Horizont aus unwahrscheinlich strahlendem Korallenrot abhob, das allmählich die Farbe von Lavendel annahm und dann grau wurde. In Anbetracht der Tageszeit herrschte nicht viel Verkehr, und Leonardo blieb auf der Straße stehen, versunken in die Schönheit seiner Umgebung. Er sah eine Kutsche auf sich zukommen und erfreute sich an der scharfen Silhouette der Pferde aus undurchdringlichem Schwarz, die sich vor dem Hintergrund des leuchtenden Himmels und der Sonne dahinter abhoben, sodass alle Einzelheiten geschluckt wurden. Der Sonnenuntergang war seine liebste Tageszeit, denn das schwindende Licht verlieh Formen und Farben eine Zartheit, etwas Geheimnisvolles, das die Mittagssonne verbrannte.
    Er verlor sich im Spiel der Schatten auf den Pferdeleibern, im Zucken der Muskeln unter der Haut, im munteren Anheben der Köpfe - so sehr, dass er sich, als die Kutsche auf ihn zurumpelte, zusammenreißen und schnell aus dem Weg gehen musste. Er lief vor ihnen über die Straße und stand plötzlich am Südflügel des Palazzo Medici; sein Ziel, knapp eine Minute entfernt, war die Via Larga.
    Kurz vor ihm ließ der Kutscher die Pferde abrupt anhalten; die Tür des Gefährts öffnete sich. Leonardo verlangsamte sein Tempo und sah zu, wie eine junge Frau ausstieg. Das Zwielicht verwandelte die außergewöhnliche Blässe ihrer Haut in Taubengrau, ihre Augen in unbeschreibliches Dunkel. Das Graubraun ihres Umhangs und ihres Schleiers, das gesenkte Haupt kennzeichneten sie als Dienerin einer wohlhabenden Familie. Ihr Schritt war zielstrebig, ihre Haltung verstohlen, als ihr Blick zu beiden Seiten wanderte. Sie eilte an den Seiteneingang des Palazzo und klopfte ungeduldig.
    Nach kurzer Pause ging die Tür mit einem langgezogenen Quietschen auf. Die Dienerin trat an die Kutsche zurück und gab jemandem darin ein zur Eile gemahnendes Zeichen.
    Eine zweite Frau tauchte aus der Kutsche auf und schritt anmutig, rasch auf die offene Tür zu.
    Leonardo sprach ihren Namen unwillkürlich laut aus. Sie war eine Freundin der Medici, eine häufige Besucherin im Palazzo; er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten mit ihr gesprochen. Noch bevor er sie deutlich sah, erkannte er ihre Bewegungen, die Neigung ihrer Schultern, die Art und Weise, wie sich ihr Kopf drehte, als sie sich umwandte und zu ihm aufschaute.
    Er trat einen Schritt näher und konnte schließlich ihr Gesicht sehen.
    Sie hatte eine lange, gerade Nase, die Spitze zeigte nach unten, die Nasenflügel bebten; die Stirn war breit und sehr hoch. Das Kinn lief spitz zu, doch Wangen und Kiefer waren anmutig gerundet, so wie ihre Schultern, die zum Palazzo Medici hin zeigten, obwohl sie das Gesicht ihm zugewandt hatte.
    Sie war schon immer schön gewesen, doch jetzt zeichnete die Dämmerung alles noch weicher und verlieh ihren Zügen etwas Gehetztes, das sie bisher nicht besessen hatte. Sie schien mit der Luft zu verschmelzen; man vermochte nicht zu unterscheiden, wo die Schatten aufhörten und ihr Körper anfing. Ihr strahlendes Gesicht, ihr Dekolletee und die Hände schienen losgelöst von dem dunklen Wald aus ihrem Umhang und ihren Haaren zu schweben. Ihre Miene zeugte von mühsam unterdrückter Freude; ihre Augen hüteten hehre Geheimnisse, ihre Lippen deuteten ein komplizenhaftes Lächeln an.
    In diesem Augenblick war sie mehr als menschlich: Sie war göttlich.
    Er streckte die Hand aus und rechnete schon beinahe damit, dass sie durch sie hindurchreichen würde, als wäre sie ein

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