Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
unserem Freund hier gerettet wurdest - und wie günstig für mich, dass du meine Bekanntschaft zuerst gemacht hast!«
Ganz außen saß ein dunkelhaariger, vielleicht achtzehnjähriger junger Mann mit dunklen Augen, dessen breite, hohe Stirn unsicher über einem derart verkürzten Kiefer balancierte, dass es aussah, als habe er alle Zähne verloren; auch dass seine Augen hervortraten oder dass sein Verhalten zurückhaltend und finster war, trug nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild bei. Er klammerte sich an seinen Weinkelch und trank daraus, während sich die anderen in freundschaftlicher Unterhaltung ergingen. Der zweite war ein alter Mann, verhutzelt und kahlköpfig, bis auf ein paar Haarbüschel an den Schläfen. Und der dritte ...
Ach, der dritte! Den dritten, den »Freund«, auf den sich der Sprecher bezog, schätzte ich auf ein Alter zwischen dreißig und vierzig - vielleicht auch alterslos, denn seine Kleidung und Aufmachung waren völlig unmodern und hätten eher zu einem alten Griechen oder Römer gepasst. Seine Tunika reichte ihm bis zu den Knien, war aus rosafarbenem, schlichtem Stoff und nicht durch die Hände eines Schneiders gegangen. Sein Haar, hellbraun mit goldenen und silbernen Strähnen, fiel ihm in makellosen Wellen bis weit über die Schultern, fast bis an die Taille, und sein ebenfalls wallender Bart entsprach in der Länge seinem Haar. Trotz seiner eigenartigen Aufmachung war er schlichtweg der Schönste im ganzen Raum. Seine Zähne waren weiß und ebenmäßig, seine Nase gerade und schmal, und seine Augen . Wenn Lorenzo schon glänzte, dann war dieser Mann die Sonne. In seinen Augen lag ein bemerkenswertes Feingefühl, eine messerscharfe Auffassungsgabe.
Im Stillen betete ich: Lieber Gott, wenn ich schon einen Mann haben muss - einen von Tausenden in Florenz -, mach, dass er es ist.
Lorenzo hielt sich gerade so weit zurück, dass die vier ihr Gespräch nicht unterbrechen mussten, um ihn zur Kenntnis zu nehmen. Als der erste Mann zu Ende gesprochen hatte, fragte ihn der Alte, der auf dem Stuhl gleich neben meinem schönen Philosophen saß, stirnrunzelnd: »Dann stimmt es also, was man munkelt? Dass Ihr auf den Markt geht und Vögel in Käfigen kauft, um sie anschließend freizulassen?«
Mein Philosoph schmunzelte charmant; der stehende Mann mit der Wachtel antwortete an seiner statt. »Ich habe ihn verschiedentlich auf solchen Missionen begleitet«, sagte er, steckte sich das gebratene Bein in den Mund und zog den fleischlosen Knochen dann wieder heraus. Kauend fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Das macht er schon seit frühester Kindheit.«
Der alte Mann schaute den Philosophen ungläubig an. »Demnach esst Ihr gar kein Fleisch?«
Mein Mann sagte schlicht, ohne zu urteilen oder sich zu entschuldigen: »Nein, Herr. Seit ich erwachsen bin.«
Der Alte ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. »Empörende Vorstellung! Wie habt Ihr das nur überleben können?«
»Allein durch Verstand, der damals spärlich war, lieber Marsilo. Durch den und Suppe, Brot, Käse, Obst und guten Wein.« Er hob seinen Kelch und trank einen Schluck.
»Aber das wird sicher Euer Leben verkürzen!«, beharrte Marsilo, ehrlich beunruhigt. »Ein Mann braucht Fleisch, um stark zu sein!«
Mein Philosoph stellte seinen Kelch auf den Tisch und beugte sich mit einem gewinnenden Lächeln vor. »Sollen wir ringen, um die Wahrheit herauszufinden? Vielleicht nicht Ihr, Marsilo, angesichts Eures ehrwürdigen Zustands, aber unser Sandro hier wird gern Euren Platz einnehmen.« Er schaute zum stattlichen Bauch des Wachtelessers auf. »Er hat ganz offensichtlich den Löwenanteil vom florenti-nischen Fleisch gegessen - gerade jetzt hat er noch eine Portion zu sich genommen. Sandro! Leg deinen Umhang ab! Komm, packen wir's an und entscheiden es empirisch!«
Der alte Mann lachte über diese Albernheit; Sandro sagte mit vorgetäuschter Langeweile: »Das wäre ein ungleicher Wettbewerb. Du bist die ganze Nacht hindurch von Mailand hierher geritten, um Lorenzo zu treffen, und bist müde. Es bräche mir das Herz, einen alten Freund zu übervorteilen - der den Kampf auch verlieren würde, wenn er gut ausgeruht wäre.«
Eine Pause trat ein; Lorenzo nutzte sie. Er hatte mich noch immer am Arm. »Meine Herren.«
Sie drehten sich um. Außer dem schönen Philosophen waren offenbar alle verblüfft, mich, ein Mädchen noch, in ihrer Mitte zu sehen.
»Hier ist eine junge Dame, die Ihr kennenlernen müsst.« Lorenzo rückte einen
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