Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Welt.«
Ich trat an eine weitere Büste, ebenfalls aus weißem Stein; sie stellte einen älteren Mann mit einer runden Knollennase und Vollbart dar, der jedoch nicht ganz so beeindruckend war wie Leonardos. »Und wer ist das?«
»Plato.«
Auch diese Büste musste ich sanft berühren, um den kalten Stein unter den Fingerspitzen zu spüren und mir einen Begriff von dem lebenden, atmenden Mann zu machen, den sie darstellte. Es gab noch eine Statue - eine zeitgenössische - von Herkules, muskulös und robust, angeblich der Gründer von Florenz. Irgendwann war ich so vertieft, dass ich meinen Kelch abstellte und ihn vollkommen vergaß.
Trotz meiner Aufregung wurde mir kühl, und ich wollte schon fragen, ob wir nicht wieder hineingehen könnten, als mein Blick auf eine weitere Büste in einer Ecke des Hofes fiel, lebensgroß, aus Terrakotta. Es war ein moderner Mann, gut aussehend und mit markanten Gesichtszügen, in der Blüte seines Lebens. Er hatte die großen Augen weit geöffnet, und auf seinen Lippen spielte die Andeutung eines Lächelns, als habe er gerade einen guten Freund erblickt. Er gefiel mir auf Anhieb.
»Der kommt mir bekannt vor.« Stirnrunzelnd versuchte ich mich zu erinnern, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte.
»Ihr seid Euch noch nie begegnet«, erwiderte Leonardo; obwohl er sich um einen leichten Tonfall bemühte, schwangen düstere Emotionen mit. »Er ist gestorben, noch ehe Ihr zur Welt kamt. Es ist Giuliano de' Medici, Lorenzos ermordeter Bruder.«
»Er wirkt so lebendig.«
»Das war er«, antwortete mein Begleiter, und nun war sein Kummer nicht mehr zu überhören.
»Also habt Ihr ihn gekannt.«
»Ja. In der Zeit, in der ich dem Haushalt der Medici angehörte, habe ich ihn gut gekannt. Eine gutherzigere Seele als ihn hat es nie gegeben.«
»Das sehe ich der Statue an.« Ich drehte mich zu Leonardo um. »Wer war der Künstler?«
»Mein Meister Verrochio hat das Werk begonnen, als Giuliano noch lebte. Ich habe es fertiggestellt - nach seinem Tod.« Er hielt inne, um in Gedanken einem fernen Kummer nachzuhängen, den er dann abrupt beiseiteschob. Mit geübten Bewegungen langte er nach einem Schreibblock und einer Feder, beide an dem Gürtel befestigt, der unter seinem Umhang verborgen war. Angeregt fuhr er fort: »Madonna, würdet Ihr mir einen Gefallen erweisen? Würdet Ihr mit erlauben, eine rasche Skizze von Euch anzufertigen, hier, während Ihr die Büste betrachtet?«
Ich war verblüfft, ja überwältigt bei dem Gedanken, dass der große Künstler aus Vinci ausgerechnet von mir eine Skizze anfertigen wollte, der unbedeutenden Tochter eines Tuchhändlers; mir fehlten die Worte. Leonardo nahm es gar nicht zur Kenntnis.
»Bleibt dort stehen, Lisa. Würdet Ihr Euch nach rechts drehen? Nur ... so, ja. Jetzt schaut zu mir auf und entspannt Euer Gesicht. Denkt an Augustus und Agrippa und wie es Euch erging, als ihr sie berührt habt. So, schließt die Augen, atmet tief ein und langsam wieder aus. Und jetzt seht mich gar nicht mehr. Seht stattdessen Giuliano vor Euch und erinnert Euch daran, was Ihr fühltet, als Ihr ihn zum ersten Mal saht.«
Ich versuchte, den Anweisungen zu folgen, obwohl meine Nerven nicht zuließen, dass ich Leonardos Gesicht vergaß - wie leidenschaftlich und durchdringend sein Blick war, wenn er rasch zwischen mir und dem Skizzenblock hin- und herflog. Laut kratzte die Feder über das Papier.
Einmal zögerte er, die Feder in der Hand: Da war er nicht mehr der Künstler, sondern nur noch der Mann, der mich sehnsuchtsvoll anschaute, und traurig. Dann riss er sich zusammen und wurde wieder sachlich; das Kratzen wurde schneller.
Schließlich war die Sonne untergegangen, alles war in Grautöne getaucht, die rasch in Dunkelheit übergingen; die Fackeln leuchteten heller.
»Atmet«, drängte der Künstler, und überrascht stellte ich fest, dass ich das Luftholen ganz vergessen hatte.
Es war schwierig, doch ich fand in mir die Kraft, mich zu entspannen, loszulassen und die Angst abzulegen. Ich dachte an Giulianos Lächeln, daran, dass er den Künstler zweifellos so freundlich angesehen hatte, der ihn gebeten hatte, Modell für ihn zu stehen.
Als ich mich schließlich vergessen hatte, wanderte mein Blick über Leonardos Schulter hinweg zum Fenster des großen Raumes, in dem die Festlichkeiten auf uns warteten. Der schwere Gobelin, der davorhing, war zur Seite geschoben worden, und ein Mann schaute unentwegt auf uns herunter, von hinten erhellt durch die strahlenden
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