Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
einem roten Käppchen quoll ihm das wellige Haar bis über die Schultern; sein Bart war gestutzt worden. Es war, als spürte er meinen Blick, denn er drehte sich um und schenkte mir ein breites Lächeln. Dann verneigte er sich knapp.
    Ich deutete einen Knicks an und blieb stehen, als er näher kam. Zalumma ging neben ihm her und gab sich den Anschein heimlicher Komplizenschaft. Sie hatte gewusst, dass er warten würde.
    »Madonna Lisa«, sagte er schließlich. Obwohl er lächelte, war sein Auftreten ernst, in Anbetracht der Tatsache, dass Florenz noch immer trauerte. »Verzeiht, wenn ich in Euer Privatleben eindringe.«
    »Es ist kein Eindringen«, sagte ich. »Ich freue mich, Euch zu sehen.«
    »Danke gleichfalls. Ich bin sofort aus Mailand abgereist, als ich hörte, mit il Magnifico gehe es zu Ende, aber so traurig es ist, ich kam zu spät. Ich habe mich im Palazzo Medici aufgehalten und hörte, dass Ihr heute vielleicht hier wärt. Ich hoffe, es ist nicht zu gedankenlos von mir angesichts der unglücklichen Umstände ... Ich frage mich, ob ich Euch wohl überreden könnte, mir Modell zu sitzen.«
    Ich erwiderte, ohne nachzudenken. »Aber Ser Lorenzo ist gestorben. Es gibt also keinen Auftrag mehr.«
    Seine Antwort kam rasch und bestimmt. »Man hat mich bereits bezahlt.«
    Ich seufzte. »Ich glaube nicht, dass mein Vater es erlauben würde. Er hält Kunst für Narretei. Er ist ein Anhänger Savonarolas.«
    Leonardo überlegte. »Ist er bei Euch?«
    Ich schaute auf die Tafel in seiner Hand. Ein Stück Papier war darauf befestigt; an seinem Gürtel hing eine sehr große Tasche. Ich legte eine Hand auf meine Frisur, meine Röcke. »Habt Ihr die Absicht, mich jetzt zu zeichnen?«
    Lachfältchen entstanden in seinen Augenwinkeln. »Ihr seid vollkommen, so wie Ihr seid.«
    Leichte Panik überfiel mich. »Ich kann nicht lange bleiben. Ich soll nur die Messe besuchen und dann nach Hause zurückkehren. Wenn ich zu spät komme, werden sich die Diener wundern, wo ich war, und könnten meinem Vater etwas sagen, wenn er nach Hause kommt.«
    »Wir haben Eurer Mutter unsere Ehre erwiesen«, sagte Zalumma laut. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu.
    Unterdessen hatte Leonardo etwas aus seiner Tasche gezogen: ein Stück Holzkohle, die an einen kleinen, abgeschmirgelten Stock gebunden war. »Ich weiß, ich habe Euch eine Kopie geschickt, basierend auf der Skizze, die ich in jener Nacht im Hof der Medici angefertigt habe. Allerdings bin ich damit nicht zufrieden.«
    »Nicht zufrieden!«
    »Sie gleicht Euch zwar, aber ich will ... etwas mehr. Ich kann mich nicht gut in Worten ausdrücken, doch wenn Ihr mir einfach vertrauen wollt . und nur für ein paar Minuten Modell steht, nicht länger. Ich will Euch keine Probleme mit Eurem Vater bereiten. Eure Dienerin wird die Zeit im Auge behalten.«
    Ich ließ mich erweichen. Er führte mich ein Stück vom Friedhof weg zu einer Stelle, an der ein großer Felsblock unter einer Eiche lag. Dort setzte ich mich hin; er forderte mich auf, den Kopf leicht zu drehen und ihn wieder über die Schulter hinweg anzuschauen, sodass mein Gesicht zu drei Vierteln zu sehen war.
    Er nahm die Holzkohle - hergestellt, so erklärte er mir, aus einem Weidenzweig, der in einem Ofen so lange angesengt wird, bis er schwarz ist - und begann mit beeindruk-kender Geschwindigkeit zu zeichnen. Zuerst kamen die groben Umrisse, die sehr schnell skizziert waren.
    Nach kurzem Schweigen fragte ich: »Wie kommt es, dass Ihr Euch so leicht an meine Gesichtszüge erinnert -nachdem Ihr mich nur ein einziges Mal gesehen habt? Die Skizze, die Ihr gemacht habt, war sehr grob. Die Zeichnung hingegen, die Ihr mir geschickt habt . Ihr habt Euch an jede Einzelheit erinnert.«
    Er konzentrierte sich weiter auf seine Arbeit und antwortete ein wenig abwesend: »Man kann das Gedächtnis trainieren. Wenn ich mich an ein Gesicht erinnern will, betrachte ich es eingehend. Wenn ich dann nachts wach liege, rufe ich mir jeden einzelnen Gesichtszug in Erinnerung.«
    »Das könnte ich nie, und schon gar nicht in der Deutlichkeit!«
    »Es ist eigentlich sehr einfach. Die Nasen zum Beispiel: Es gibt nur zehn Arten von Profilen.«
    »Zehn Arten!« Ich lachte kurz auf. Er hob eine Augenbraue, und sogleich fror ich mein Lächeln ein und gab mir große Mühe, die ursprüngliche, entspannte Miene aufzusetzen.
    »Zehn Arten von Profilen: gerade, spitz, Adlernase, platt, rund, hervorspringend, manche mit einem Höcker oder einer Einkerbung über der Mitte,

Weitere Kostenlose Bücher