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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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Untersuchung. Auch die Behandlung greift von mehreren Seiten: durch ein kontrolliertes Essverhalten, eventuell durch Medikamente und Psychotherapie, oft in einer spezialisierten Klinik, denn es ist schwer, diesen Störungen ambulant beizukommen. Essstörungen sind sehr ernst zu nehmende Krankheiten, gerade die Magersucht. Innerhalb von zwanzig Jahren sterben 20 Prozent der Betroffenen, entweder an der Krankheit und ihren Folgen oder durch Suizid. 20 Prozent bleiben chronisch krank. 49
    Persönlichkeitsstörungen
    Wie so oft saßen Dr. Weston, mein ambulanter Therapeut, und ich uns auf bequemen Sesseln gegenüber. Die Krise vom März 2011 hatten wir inzwischen ausführlich besprochen. Er war an dem Tag sehr angespannt gewesen – das hatte sich für mich wie Ablehnung angefühlt. Er hatte gern gesagt, um zu vermitteln, dass ich die Wahl hatte. Er wollte mich von sich aus nicht loswerden, und er würde auch noch länger, als er geplant hatte, seine Praxis behalten. Heute trug er Jeans und ein schwarzes Cordsakko. Seine blauen Augen hinter der eckigen Brille blickten sowohl freundlich als auch ernst. Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über seinen grauen Schnurrbart. Dann ließ er die Katze aus dem Sack.
    Â»Die Stunden reichen nur noch für eine Sitzung pro Woche?«, fragte ich ihn entsetzt, wiederholend, was er mir gerade erzählt hatte. »Wie soll ich denn zurechtkommen mit weniger Psychotherapie?«
    Â»Leben ist immer Veränderung«, erwiderte Dr. Weston. »Niemand hat das trefflicher zu Papier gebracht als Hermann Hesse in seinem ›Stufen-Gedicht‹. Das sollten Sie mal lesen. Lebensweisheit pur.«
    Wieder zu Hause, machte ich sofort den Computer an, ging ins Internet, auf der Suche nach den berühmten Zeilen. Als ich sie fand, traf mich fast der Schlag. Das Gedicht begann mit den folgenden Sätzen:
    Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
    Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
    Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
    Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
    Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
    Bereit zum Abschied sein und Neubeginne …
    Als ich die letzte Zeile – »Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde« – gelesen hatte, saß ich wie paralysiert vor dem PC . Panik flutete durch meinen Körper wie eine Welle. »Bereit zum Abschied sein.« Nein! Nicht schon wieder eine Trennung. Allein den Gedanken daran hielt ich schon nicht aus. Am liebsten wäre ich auf der Stelle zu meinem Therapeuten zurückgefahren, hätte mich wie ein Kleinkind an sein Hosenbein gekrallt und heulend gefleht: »Bitte gehen Sie nicht weg. Bitte verlassen Sie mich nicht.« In meinem Magen bildete sich ein schmerzhafter Knoten. Das war der Anfang vom Ende. Er hatte von weniger Stunden gesprochen, irgendwann würde es gar keine mehr geben. Dr. Weston, der mich verstand wie kein anderer, würde mich doch eines Tages verlassen. O Gott. Wie sollte ich das nur überleben?
    Neben meinen Depressionen und meinen Essstörungen leide ich auch an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, unter Medizinern als Borderline-Störung bekannt. Menschen, die daran erkrankt sind, haben eine Vielzahl von Symptomen und Defiziten, besonders extrem ist ihre Angst, verlassen zu werden. Nicht anders ist es bei mir, überhaupt bin ich gefühlsmäßig äußerst empfindlich. Ein einziges Wort – oder ein Gedicht – kann mich für den ganzen Tag aus dem Gleichgewicht bringen, in Schockstarre versetzen, einen Wutanfall auslösen oder einen Weinkrampf. Ich höre das Gras wachsen und lege jedes Wort auf die Goldwaage. Es ist sehr anstrengend, unangemessen sensibel zu sein, oft werfen mich schon die Nachrichten – wieder ein Krieg im Nahen Osten – so aus der Bahn, dass ich, in einer Panikattacke gefangen, nachts nicht schlafen kann und mich am liebsten unter dem Bett verstecken würde.
    Abgesehen von diesen beiden Markern, der Verlustangst und den uferlosen Stimmungsschwankungen, sind Borderline-Patienten sehr unterschiedlich. Manche trinken, nehmen Drogen, verletzen sich, geraten in Ausnahmezustände (dissoziative Zustände), andere gehen intensive, aber zerstörerische Beziehungen ein, essen viel oder wenig, geben zu viel Geld aus oder haben häufig wechselnde Affären. Oft haben die Patienten eine Mischung von verschiedenen Symptomen. An der Borderline-Störung leiden erheblich mehr

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