Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
aber mehr Männer als an anderen Essstörungen, ihr Anteil liegt bis zu 30 Prozent höher als bei Magersucht und Bulimie. Bei der Binge-Eating-Störung überwiegen die Frauen mit einem Verhältnis von drei zu eins. 43 Bei Magersüchtigen sind es zwölf zu eins, 44 bei der Bulimie zehn zu eins. 45
Zwischen den einzelnen Essstörungen sind Ãbergänge häufig. Denn ob man nun sehr wenig isst oder sehr viel, die Nahrung wieder ausspuckt oder nicht, gemeinsam ist den Erkrankten, dass ihr Seelenfrieden mit dem Essen zusammenhängt, sich alle Gedanken immer ums Gewicht und ums Essen drehen. Das gestörte Essverhalten dient dazu, die eigenen Gefühle und den eigenen Selbstwert zu regulieren. Je stärker die Essstörung, desto stärker sind auch die damit einhergehenden beziehungsweise darunterliegenden Ãngste, Zwänge und Depressionen. Während einer Depression kommt es also häufig zu einem gestörten Essverhalten, beide Krankheiten bedingen einander. Bei Essgestörten finden sich aus diesem Grund auch häufiger affektive Erkrankungen in der Familie. 46
Die Magersucht ist das Gegenteil einer Binge-Eating-Störung. Wer daran leidet, verfügt über eine enorme Selbstdisziplin, ist sehr leistungsbereit und reduziert die Nahrungsaufnahme immer weiter. Genau das treibt Magersüchtige an: Sie sind in der Lage, etwas Lebenswichtiges zu kontrollieren. Meist trifft diese Krankheit Frauen, die sehr perfektionistisch sind und ein extrem geringes Selbstwertgefühl haben. Oft ist es eine unbewusste Verweigerung, sich vom Mädchen zur Frau zu entwickeln. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung bei Magersüchtigen vollkommen gestört ist: Auch wenn sie nur noch dreiÃig Kilo wiegen, fühlen sie sich fett.
Ich selbst habe nie die Diagnosekriterien einer Anorexia nervosa , einer Magersucht,erfüllt â auch nicht, als ich 2003 nur noch Gemüsesuppe, Obst, Quark und Fisch aà â, denn mein Gewicht lag immer noch im Normbereich. Mich brachte dies schier zur Verzweiflung. Obwohl ich dreimal die Woche zum Sport ging, Halbmarathon lief und kaum noch etwas aÃ, schaffte ich es nicht, weniger als vierundsechzig Kilo zu wiegen. Ich erinnere mich gut an die Abende, wenn ich vom Training kam. Schon auf dem Weg nach Hause dachte ich nur an eins: Durfte ich noch einen Apfel essen? In der Küche setzte ich mich hungrig an den Tisch und betrachtete prüfend die Obstschale, drei Braeburn-Ãpfel lagen darin. Ein Apfel hat, so überlegte ich, rund hundert Kalorien und weniger als ein Gramm Fett. Das ist doch wenig. Gleichzeitig wollte ich am kommenden Morgen ein niedriges Ergebnis auf der Waage sehen. Wenn es nicht so gering war, wie ich es mir wünschte, würde ich mir Vorwürfe über genau diesen Apfel machen. Also verzichtete ich und ging ins Bett. Das Gefühl, so viel Disziplin und Kontrolle zu haben, den knurrenden Magen und den Appetit auszuhalten, war groÃartig.
In dieser Zeit war mir zwar klar, dass ich einigermaÃen schlank war, aber dennoch trieb mich etwas zu hungern. Heute bin ich zu dick, und ich nehme mich wie ein Monster wahr. Das führte dann dazu, dass ich mich 2012 ein paar Monate lang nach dem Essen übergab. Es war zwar eklig, mir mit der Zahnbürste im Hals herumzustochern, um den Würgereiz auszulösen â aber wenn es half, abzunehmen, hielt ich das für okay. Ich brach das Experiment Bulimie nur wieder ab, weil es auf mein Gewicht keinen Einfluss hatte. Meine Essstörung bekomme ich nur langsam in den Griff, immer noch sind für mich zwei der wichtigsten Themen im Leben, wie ich aussehe und was ich wiege.
Magersucht und Bulimie sind nicht nur typisch weibliche, sondern auch typisch jugendliche Phänomene, das Geschlechterverhältnis liegt insgesamt bei zehn zu eins. 47 Sie gehören zu den häufigsten psychosomatischen Erkrankungen bei Mädchen und jungen Frauen im Alter zwischen fünfzehn und vierundzwanzig (ich hatte mit neunundzwanzig ein relativ spätes Eintrittsalter): Etwa ein Prozent von ihnen leidet an Magersucht, bis zu drei Prozent sind es bei einer Bulimie, an allen weiteren Essstörungen erkranken bis zu 13 Prozent. 48 Die genauen Ursachen sind bis heute nicht erforscht, man nimmt aber an, dass sie sehr komplex sind, individuelle, soziale, kulturelle, genetische und familiäre Einflüsse eine Rolle spielen. Diagnostiziert werden sie nach einer körperlichen sowie psychischen
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