Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Haare und trug ein beigefarbenes langes Kleid. Sie nahm mir die Taschen aus der Hand und redete ohne Punkt und Komma auf mich ein, wobei sie mich ungefragt duzte: »Na, du bist ja eine ganz Liebe, eine ganz, ganz Liebe, das sehe ich doch gleich. Wir werden uns sicher wunderbar verstehen. Ich bin die Burgunde.«
»Hallo, ich heiÃe Heide«, erwiderte ich und gab der Frau, deren Ohren schimmernde Perlen zierten, die Hand.
Birgit stellte meine Taschen neben das leere Bett â es war das direkt hinter der Tür â und drängte mich hinaus auf den Flur. Sie deutete mit dem Kopf auf das Zimmer, zog die Augenbrauen hoch und nahm mich fest in den Arm.
»Mach es gut, ja?«
Ich nickte.
»Komm, das wird schon«, sagte sie und lächelte unsicher.
»Ja, das wird schon«, wiederholte ich zögernd.
Birgit drehte sich jetzt um, und ich sah ihr nach, wie sie den Flur hinunter zum Ausgang ging. Mit einem tiefen Atemzug öffnete ich die Tür zum Zimmer 24. Burgunde sprang sofort von ihrem Bett am Fenster auf und stellte sich vor mich hin. Ungebremst wie ein Wasserfall erzählte sie mir, wie lange sie schon da sei, worunter sie litt und wie es dazu gekommen war. In einer halben Stunde erfuhr ich ihre komplette Lebensgeschichte. Ich fühlte mich überfordert, mochte ich doch diesen Verlust an Privatsphäre überhaupt nicht. Das mangelnde Gefühl dafür, Grenzen einzuhalten, störte mich. Die Nähe, die dadurch hergestellt wurde, war nur vorgetäuscht. Ich wurde mit Details überflutet, aber es entstand keine Beziehung. Burgunde hätte jeden anderen genauso zugelabert wie mich.
»Du, ich sehe mal nach, wo Frau Wulf steckt.« Schnell floh ich mit dieser fadenscheinigen Begründung aus dem Zimmer. Ich wagte es nicht, eine ehrlichere Antwort zu geben, zum einen, weil ich nicht wusste, wie krank meine Mitbewohnerin war. Worte konnten eine Menge auslösen. Zum anderen, weil ich nicht unhöflich sein wollte â selbst wenn sie mit ihrem Redeschwall unhöflich zu mir war. Ich sollte noch viele Frauen wie Burgunde kennenlernen. Heute würde ich einer solchen Patientin zu verstehen geben: »Ich möchte mich im Moment nicht unterhalten.« Oder: »Ich möchte gern lesen.« Aber damals hatte ich mich noch nicht getraut, etwas Ãhnliches zu sagen.
Auf dem Flur kam mir zum Glück Frau Wulf entgegen, sie war gerade auf dem Weg zu mir gewesen. Die Krankenschwester zeigte mir die Räumlichkeiten der Station, erklärte, wann die Mahlzeiten im Speisesaal eingenommen wurden. Alles war durchgetaktet, Pünktlichkeit und ein strukturierter Tagesablauf waren auf dieser Station offenbar wichtig. Das wird mir schwerfallen, dachte ich. Ich hasste es, wenn ich auf die Minute genau irgendwo sein musste.
»Die Räume für die Musik- und Ergotherapie sind ein Stockwerk tiefer, da nimmt Sie einer von den Patienten mit«, bemerkte jetzt Frau Wulf. Von beiden Therapieformen hatte ich schon gehört, kannte die Behandlungen aber nicht aus eigener Erfahrung. AuÃerdem erfuhr ich von ihr, dass es eine ärztliche Sprechstunde für die Medikamente gab, eine Entspannungsgruppe, Morgen- und Abendrunden und noch einiges mehr. »Die Patienten müssen auch kleinere Aufgaben übernehmen«, fuhr sie fort, »etwa die Tische im Speisesaal auf- und abdecken oder die Blumen gieÃen.«
»Und woher weià ich, ob und wann ich das machen muss?«, fragte ich.
»Das wird jeden Freitag in der Morgenrunde besprochen«, erwiderte Frau Wulf.
Der Plan, den sie mir am Ende des Rundgangs in die Hand drückte, wirkte ziemlich voll, was mich trotz der straffen Zeiteinteilung erleichterte. Für mich bedeutete das: Hier würde ich endlich Raum für meine Not bekommen. Dennoch war ich froh, als die Krankenschwester mir mitteilte, dass ich jedes Wochenende nach Hause fahren dürfte. Und abends könnte ich die Station ebenfalls verlassen, wenn auch nur bis einundzwanzig Uhr. Obwohl die Türen offen waren, hatte ich mich eingeschlossen gefühlt â seit dem Moment, in dem ich die psychiatrische Station betreten hatte. Immer wieder musste ich mich daran erinnern, dass ich freiwillig hier war und jederzeit gehen konnte.
Danach verabschiedete sich Frau Wulf von mir, und es war Zeit, zum Mittagessen den Speisesaal aufzusuchen. Dort erfuhr ich, dass nach mir gesucht worden war. Ein erstes Gespräch mit einem Psychologen war für mich
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