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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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und Distanz mit. Aber durch ihren Blick oder indem sie, genau wie Burgunde, in einem ununterbrochenen Strom ihre Intimitäten erzählten, war zu spüren: Sie hatten Furcht, fühlten sich depressiv, dachten an Selbstmord, konnten nicht essen, nicht schlafen. An diesem ersten Tag fühlte ich mich in ihrer Mitte gesünder, ahnte aber tief in meinem Innern, dass das eine Illusion sein könnte.
    Nachdem ich als Letzte von meinem ersten Tag berichtete hatte, von den vielen Eindrücken, bemerkte der Pfleger: »Sie halten offenbar gern das Zepter in der Hand.«
    Â»Wie meinen Sie das?« Ich verstand nicht, was er damit zum Ausdruck bringen wollte.
    Â»Nun, Sie wissen offenbar sehr genau, was Sie wollen und was nicht.«
    Ãœberrascht schaute ich ihn an. Einen ähnlichen Kommentar hatte ich bereits von der orangefarben gewandeten Frau in der Musiktherapie bekommen. Natürlich hatte ich gern die Kontrolle über mein Leben. Wer hatte das nicht? Trotzdem war ich irritiert – die kannten mich hier doch gar nicht, und doch kommentierten sie schon das, was ich gesagt hatte. Sicher, das ist ihre Aufgabe – aber gleich am ersten Tag?
    Nach der Abendrunde holte ich meine Medikamente im Dienstzimmer ab, eine Box mit den Tabletten für den nächsten Tag. Ich wusste nicht, dass das in Kliniken üblich ist. Ich war davon genervt, dass ich mir meine Arzneimittel nicht selbst zuteilen durfte. Für das Personal wäre das wohl wieder ein Hinweis dafür gewesen, dass ich die Kontrolle über alles haben wollte. Um halb acht ging ich ins Bett. Burgunde war zum Glück nicht da, wahrscheinlich hielt sie sich im Aufenthaltsraum auf, saß vor dem Fernseher. Endlich Ruhe. Ich schickte Birgit noch eine SMS : »Die Leute hier sind echt krass!« Kurz darauf piepte mein Handy, eine Antwort- SMS von meiner treuen Freundin: »Liebe Heide, die Leute können dir doch wurscht sein, Hauptsache, die Therapie taugt etwas. Halt die Ohren steif, ich denk an dich!«
    Nach diesem ersten Tag war ich todmüde. Trotzdem konnte ich lange nicht einschlafen. Ich knipste das Licht an und trank einen Schluck Mineralwasser. Burgunde war immer noch nicht zurück, ihr Bett war leer. Während ich die Wasserflasche wegstellte und mich seufzend wieder hinlegte, konnte ich nur noch eines denken: Die Depression hatte mich in den vergangenen Monaten fest im Griff gehabt. Jeder Tag war eine einzige Tortur gewesen.
    Langsam wurde ich müde. Gab es ein Schlüsselerlebnis, warum ich jetzt hier in der Psychiatrie war? Der wichtigste Schritt aus der Antriebslosigkeit heraus war nicht gewesen, dass ich mir diese Form der Hilfe gesucht hatte. Am wichtigsten war es gewesen, mir zugestehen zu können, dass etwas nicht stimmte. Das erlaubte mir erst, Unterstützung anzunehmen. Mir kam ein Gedanke. Schon oft hatte ich darüber gelesen: Gerade Frauen denken oft als Letztes an sich selbst. Erst kommen die Kinder, der Partner, die Freunde, die Nachbarn, die Kollegen, der Job. Dazu ein manchmal geradezu irrsinniger Perfektionismus, alles selbst machen zu wollen. Frauen haben es geradezu kultiviert, sich nur ja nicht helfen zu lassen.
    Doch wichtig war für mich, ein Sich-helfen-Lassen zu lernen. Zu lernen, sich selbst wichtig zu nehmen. Sich selbst an erste Stelle zu setzen. Oder wenigstens sich selbst gleich wichtig zu nehmen wie die Kinder oder den Partner. Sich so gut zu behandeln wie die beste Freundin. Geduldig, nachsichtig und mitfühlend. Nicht normal ist es, sich selbst nicht für wichtig, nicht wertvoll zu erachten. Wer sich nicht wertschätzt oder sich sogar verabscheut, hat eine verzerrte Wahrnehmung. Ich fand mich früher nie liebenswert, ich fand mich unerträglich, anstrengend und hassenswert. Sich selbst zu mögen, gar zu lieben, kann sehr schwer sein. Und das fängt in der Kindheit an. Meine Depression begann in der Kindheit. Mit diesem Gedanken schlief ich endlich ein.

4 Der Anfang vom Ende, Kiel 1983
    D reh- und Angelpunkt meines Lebens ist der Tod meiner Mutter. Sie starb, als ich neun Jahre alt war. Es ist nur ein Satz, ganz leicht aufzuschreiben. Es sind auch nur acht Worte, ich habe sie schon hundertmal ausgesprochen, es ist ein Standardsatz meiner Biografie. Doch eigentlich ist es ein Drama.
    Meine Mutter starb bei einem Unfall. Meine Eltern befanden sich da mitten in ihrem Trennungskrieg. Wir wohnten in einer Straße mit lauter Einfamilienhäusern am Stadtrand von Kiel.

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