Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
vorgesehen, weiterhin eine ärztliche Untersuchung, eine Musiktherapiestunde und später die Abendrunde, in der der ganze Tag abschlieÃend besprochen werden sollte. Wieder war ich dankbar dafür, dass man mich nicht alleinlieÃ.
Der Termin mit dem Psychologen war gleich nach dem Mittagessen, sein Zimmer lag direkt neben dem Speisesaal. »Hallo, ich bin Dr. Müller«, sagte er, als er die Tür öffnete und mit ausgestreckter Hand auf mich zukam. Ich hatte auf einem Stuhl vor dem Raum gewartet und lächelte unsicher. Der Mann sah aus wie ein Baum: Bestimmt zwei Meter groÃ, stattliche breite Schultern, trainierte Armmuskeln zeichneten sich unter dem engen Shirt deutlich ab. Sein Händedruck war kräftig und der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen fest. Wir setzten uns in seinem kleinen Zimmer an einen winzigen Tisch, und ich erzählte, warum ich da war. Er machte einen kompetenten Eindruck, fragte gezielt nach.
»Im Moment komme ich mit der Trennung von meinem Freund nicht zurecht, aber das eigentliche Drama meines Lebens ist der Tod meiner Mutter«, sagte ich. So viel hatte ich im letzten halben Jahr ambulanter Therapie schon gelernt â die Ursachen meines Problems lagen tiefer.
»Wann ist sie gestorben?«
»Als ich neun war.«
Seitdem, so schilderte ich weiter, hätte ich mich wie ein Spiegel gefühlt. In mir wäre ich eigentlich leer. Einzig würde ich die Menschen, die mich umgeben, spiegeln, denn ich würde versuchen, stets so zu sein, wie sie mich haben wollen. Dr. Müller deutete das als einen möglichen Mechanismus, um sich nicht mit sich selbst intensiv auseinandersetzen zu müssen. Während ich über seine Worte nachdachte, schlug er ein Bein über das andere und lehnte sich dann nach vorn. SchlieÃlich antwortete ich: »Was Sie sagen, kann natürlich sein, allerdings dachte ich immer, dass ich mich sehr mit meinem Seelenleben beschäftigen würde.« Statt etwas zu erwidern, sah Dr. Müller auf die kleine eckige Uhr, die an der gegenüberliegenden Wand im Regal stand. Der Blick war eindeutig: Die Sitzung war zu Ende. Sie kam mir sehr kurz vor, ambulant hatte man fünfzig Minuten, hier waren es also nur dreiÃig Minuten. Beim Abschied meinte er, dass es im Moment nur eine Einzeltherapie pro Woche gäbe, sein Kollege sei im Urlaub, sonst wären es zweimal dreiÃig Minuten.
»Wie lange wird er denn noch in den Ferien sein?«, fragte ich.
»Zwei Wochen.«
»Haben Sie dann anschlieÃend Urlaub?«
Er lächelte. »Nein, keine Angst.«
Erwischt!
Kurz danach, um 13.30 Uhr, ging ich zum Untersuchungsraum am hinteren Ende des Flurs, den Frau Wulf mir vor dem Mittagessen gezeigt hatte. In der Tür stand schon die Ãrztin. Sie sah aus wie eine Linksautonome aus dem Hamburger Schanzenviertel: rote, kurze Haare, einen ihrer Daumen schmückte ein breiter silberner Ring, die rechte Augenbraue ein Piercing. Aber sie trug einen weiÃen Kittel. Alle anderen Mitarbeiter der psychiatrischen Abteilung, die ich bis jetzt getroffen hatte, waren in »Zivil«, was ich sehr angenehm fand.
Im Untersuchungsraum musste ich mich erst oben, dann unten herum ausziehen, was mir sehr unangenehm war. Ich fühlte mich zu dick, und es war mir peinlich, dass die Ãrztin mich ansah und anfasste. Nachdem ich mich auf eine Untersuchungsliege gesetzt hatte, haute sie mir mit einem Hämmerchen aufs Knie, das zu ihrer Zufriedenheit reflexhaft zuckte. Danach strich sie mir über Arme und Beine und fragte: »Fühlen Sie das?« Ich bejahte. Dann sollte ich auf einem Bein stehen, die Augen schlieÃen und mit den Fingern meine Nasenspitze berühren.
Wie so oft versteckte ich meine Verlegenheit hinter Fragen. Ich wollte wissen, wozu diese Untersuchungen dienten. Die Medizinerin erklärte, sie wolle dadurch herausfinden, ob irgendwelche schwerwiegenden neurologischen Schäden vorliegen, ob es Probleme mit dem Herz oder dem Gehirn gibt. »Aber bei Ihnen ist alles in Ordnung«, bemerkte sie abschlieÃend. »Und jetzt werde ich Ihnen noch Blut abnehmen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung erfahren Sie am Donnerstag in der ärztlichen Sprechstunde.« Damit war ich entlassen â und ich war erleichtert, dass es vorbei war.
Um 14.30 Uhr hatte ich meine erste Musiktherapie. Sie fand im ersten Stock des Klinikgebäudes in einem groÃen Raum voller Instrumente statt. Dort standen ein
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