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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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liebevoll von ihr Abschied nehmen.
    Die Trauer um meine Mutter, diese nie verheilte Wunde, trug ich mein Leben lang mit mir herum. War mein Vater wütend auf mich – und er war es oft –, sagte er: »Du bist genau wie deine Mutter.« Das hieß in anderen Worten: Durch und durch »verdorben.« Wenn ich es wagte, ihm zu widersprechen, indem ich sagte, er solle nicht respektlos über sie reden, schrie er mich an. Da ich Angst vor ihm hatte, erstickte mein Aufstand schnell. Das Schlimmste war, dass ich irgendwann seine Sichtweise über meine Mutter übernahm, bis sie in mir ausgelöscht war. Nur noch eine Handvoll Erinnerungen habe ich an sie.
    An uns als Familie erinnere ich mich überhaupt nicht – ich trage keine Bilder von ihr, meinem Vater und mir herum. Meine Mutter hatte einen Sohn aus erster Ehe (mit meinem Vater war sie zum zweiten Mal verheiratet), er ist zehn Jahre älter als ich. Bis er auszog, wohnte er bei uns, auch ihn beziehungsweise Erlebnisse mit ihm kann ich mir kaum ins Gedächtnis rufen. So eine kindliche Amnesie ist immer ein Zeichen für ein Trauma, erklärte mir Jahre später mein Therapeut. Und er bestätigte, dass auch Kinder Depressionen haben können. Im Grunde war ich schon immer depressiv. Immer heißt: bereits in der Zeit vor dem Tod meiner Mutter. Doch letztlich weiß ich nur wenig von meinen ersten neun Lebensjahren, kann nur einzelne, klar umrissene Situationen wiedergeben, wie zum Beispiel meine Einschulung. An diesem Tag saß ich in der verwinkelten Aula der städtischen Waldorfschule auf dem Schoß meiner Mutter. Das Mädchen neben mir, das sich ebenfalls auf dem Schoß seiner Mutter befand, hatte die gleiche Schultüte wie ich, nur die Farben unterschieden sich. Dieses Mädchen wurde meine beste Freundin in der Grundschulzeit. Ich erinnere mich daran, wie aufgeregt ich war und wie toll ich es fand, dass wir später im Klassenzimmer erste Buchstaben lernten. Doch ob mein Vater und mein Bruder bei der Einschulung waren, kann ich nicht sagen.

6 Der Teufel trägt Prada – meine Jahre im Internat
    M ein Vater und ich verstanden uns nicht. Er drohte mir oft: »Wenn du nicht artig bist, kommst du wieder ins Heim!« Artig hieß: unauffällig. Ich galt als anstrengendes Kind, mein Vater sagte: »Du bist wirklich eine Zumutung.« Wenn ich heute sehe, wie meine Freundin Maren mit ihren beiden Söhnen umgeht, fällt mir immer wieder auf, wie anders es bei uns zu Hause war. Mit meinem Vater habe ich nicht gekuschelt. Er hat niemals mit mir gespielt. Ich war viel allein und habe gelesen. Auch gab es nie einen Kuchen und Kerzen zum Geburtstag, wie ich es von meiner Mutter kannte. Mein Vater vergaß meinen Geburtstag auch mal. Jahrelang war ich nicht beim Zahnarzt, und er ließ mich oft stundenlang allein im Auto, wo ich auf ihn warten sollte. Mein Vater besaß damals mehrere Spielhallen in ganz Schleswig-Holstein. Wir fuhren von Kiel aus nach Itzehoe oder Rendsburg, nach Eutin, Plön oder Preetz. Die Situation war immer die gleiche: Über Landstraßen ging es durch Dörfer und Städtchen, mein Vater hörte Nachrichten im Radio oder telefonierte mit seinem Autotelefon, doch mit mir sprach er nicht. Irgendwann hielt er vor einer der Spielhallen. Er nahm dann seine Papiere und seinen Mantel vom Rücksitz, sagte kurz: »Du wartest hier« und ging. Ich blieb im Wagen sitzen. Manchmal dauerte sein Termin eine Stunde, manchmal drei, ich wusste es vorher nicht, denn er teilte es mir nie mit. Diese Situationen haben mich so geprägt, dass ich heute immer, wirklich immer, in meiner Handtasche etwas zum Lesen dabeihabe – damit ich gerüstet bin, wenn ich unverhofft irgendwo warten muss.
    Vor allem war ich ihm im Weg. Deshalb schickte er mich mit zwölf ins Internat. Erst versuchte er, mich in der berühmten Internatsschule Schloss Salem in Baden-Württemberg unterzubringen. Dort über den Hof zu gehen, fühlte sich an, wie Teil der Fernsehserie Das Erbe der Guldenburgs zu sein, die auf Schloss Wotersen und Gut Hasselburg gedreht wurde. Doch nach unserem Besuch erfuhren wir, dass sie mich nicht aufnehmen wollten, den Grund weiß ich nicht mehr. Mein Vater war sehr enttäuscht, und es fühlte sich an, als wäre ich schuld, dass wir eine Absage bekommen hatten. Seine zweite Wahl war Carlsburg in Schleswig-Holstein, in der Nähe von Kappeln, ebenfalls eine sehr teure

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