Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Meinen Vater erlebte ich vor dem Tod meiner Mutter vor allem als Bedrohung. Ich wusste nicht, was auÃer Streit und Wutanfällen noch passieren könnte, aber die Atmosphäre bei uns zu Hause erschien mir immer äuÃerst gefährlich. Ich zog in dieser Zeit grundsätzlich den Kopf ein. Kaum trat ich durch die Wohnungstür, hörte ich meinen Vater schon brüllen: »Du blöde Kuh! Das ist ja wohl das Allerletzte!«
»Lass mich in Ruhe«, erwiderte meine Mutter. Was sie noch sagte, bekam ich nicht mit, es ging in ihrem Weinen unter.
Dann hörte ich wieder meinen Vater: »Ja, heul doch. Los, heul ganz doll. Dein Heulen ist mir scheiÃegal!«
Die Luft, die ich einatmete, schien ständig geladen zu sein. Ich lernte, meine Antennen auszufahren und vorzufühlen, wie die Gemütsverfassung bei jedem Einzelnen war. Ich lernte auch, mich möglichst unsichtbar zu machen und meine Mutter zu trösten. SchlieÃlich zogen sie und ich aus und wohnten in den letzten Monaten vor ihrem Tod bei ihrem neuen Freund.
In seinem Beisein erfuhr ich, dass meine Mutter gestorben war, die Polizei informierte ihn â und mich nahmen die Beamten gleich mit. Ich weià nicht, ob mir jemand die Zusammenhänge erklärte, jedenfalls waren es Sorgerechtsfragen, die dazu führten, dass ich wenige Stunden später in ein Kinderheim kam. Für mich war es eine Katastrophe. Von einem Tag auf den anderen wurde ich aus vertrauten Zusammenhängen gerissen, innerhalb von drei Monaten das zweite Mal.
Es war schon spätabends, als ein Polizist mich in dieses Heim brachte. Eine grau gekleidete Nonne begrüÃte mich und führte mich in den ersten Stock. Dort war der Schlafsaal. Das Licht war schon aus. Wir gingen in eine kleine Kammer, und die ältere Frau gab mir ein Nachthemd. Ich war fassungslos â ich trug doch immer einen Schlafanzug! Aber ich konnte nichts sagen. Es war mir nur schmerzlich bewusst, dass ich kein Zuhause mehr hatte und mich hier niemand kannte.
Als ich im Bett lag, mitten in dem groÃen Schlafraum, hörte ich die anderen Mädchen ruhig atmen. Leise weinte ich in mein Kissen. In mir war nur der eine Gedanke: Ich will zu meiner Mama! Ich fühlte mich nackt in dem Nachthemd, es war ja unten offen, und im wahrsten Sinn des Wortes mutterseelenallein. Nie wieder in meinem Leben habe ich mich so verlassen gefühlt wie in diesem Moment.
Sechs Wochen war ich in dem Heim, mein Vater besuchte mich nur ein einziges Mal. Er kam, um mit mir die passende Kleidung für die Beerdigung meiner Mutter auszusuchen. Wir fuhren zu Meislahn , das war damals das feinste Geschäft in Kiel. Er sprach nur das Nötigste mit mir.
»Was hast du für eine KleidergröÃe?«
»Das weià ich nicht«, sagte ich.
Mein Vater verzog das Gesicht. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht laut loszuheulen. Solche Sachen wie meine KleidergröÃe hätte meine Mutter gewusst. Mein Vater entschied, dass ich einen dunkelblauen langen Rock zu diesem Anlass tragen sollte. Hatte ich ihn eigentlich in den vergangenen Tagen vermisst? Als ich ihn jetzt sah, war er beides für mich, fremd, aber auch vertraut. Doch auÃer diesem einen Mal, als mein Vater mit mir einkaufen ging, erschien niemand, um mich zu besuchen. Aus jetziger Perspektive ist das unverständlich. Hatte meine Mutter denn keine Freunde? Meine Verwandten mütterlicherseits lebten in der DDR , aber auch väterlicherseits weià ich von Onkeln und Tanten. Was war mit denen? Was war mit meinen Freundinnen aus der Siedlung, in der wir gewohnt hatten? Was mit deren Eltern? Und überhaupt: Wieso musste ich nicht zur Schule? Auf diese Fragen erhielt ich nie Antworten.
Im Heim schien es mir, als lebte ich in einem Nichts. Dort verhielt ich mich genau wie in den letzten Monaten: pflegeleicht, angepasst â und ich fühlte mich jeden Tag einsamer. Meine Mutter war weg, mein Vater war weg, ich selbst war wie ausgelöscht. Als wäre auch ich gestorben. Ich gehörte zu niemandem mehr â und niemand gehörte zu mir. Heute weià ich, dass ich in dieser katholischen Einrichtung für Kinder und Jugendliche zum ersten Mal in einen sogenannten dissoziativen Zustand geriet. Der zeigt sich zum Beispiel dadurch, dass man sich auÃerhalb seines Körpers fühlt.
Wie im Nebel begleitete ich meinen Vater zur Beerdigung. In der Kapelle saà ich neben ihm, und ich war völlig erstaunt
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