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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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Schule mit einem elitären Ruf. Und auch hier war das Hauptgebäude ein Schloss. Denn meinem Vater war vor allem das Prestige wichtig. Doch ich wollte dort keinesfalls hin, genauso wenig wie nach Salem. Ich wollte überhaupt nicht in ein Internat und versuchte, mich gegen seine Entscheidung zu wehren.
    An einem Wochenende saßen mein Vater, seine Freundin und ich auf den grünen Sesseln im Wohnzimmer, ich kam mir vor wie in einem Gerichtssaal. Im Nachhinein bin ich erstaunt, dass sie überhaupt mit mir über dieses Thema diskutierten – beziehungsweise, dass ich wenigstens angehört wurde. Genützt hat es mir allerdings nichts. Weinend brachte ich ein Argument nach dem anderen vor, warum ich zu Hause bleiben wollte: »Der Garten, um den muss ich mich doch kümmern.« Das hatte früher meine Mutter gemeinsam mit mir gemacht: ihn umgegraben, Stiefmütterchen gepflanzt, den Rasen gemäht.
    Mein Vater hielt dagegen: »Aber Heide, du sollst eine gute Schulbildung bekommen. Sieh doch ein, wie wichtig das ist.«
    Am Ende sagte ich nur: »Ich möchte aber nicht, bitte, Papa.«
    Bei meinem Vater zu leben war zwar nicht schön, aber die Vorstellung, in einem Internat zu sein, war noch viel schlimmer. Es erinnerte mich an meine Wochen im Heim nach dem Tod meiner Mutter. Nicht schon wieder wollte ich mich so allein fühlen. Nicht schon wieder an einem Ort sein, wo ich niemanden kannte. Auch wenn ich überall nur das fünfte Rad am Wagen war: Mein Vater war mir wenigstens vertraut, genauso wie meine Klassenkameraden und die Nachbarskinder. Die Angst, allein zu sein, konnte ich damals noch nicht in Worte fassen, aber ich fühlte mich total abgeschoben. Mein Vater behauptete dagegen, es wäre nur zu meinem Besten. Wegen der Ausbildung und weil er wegen seines Berufs sowieso keine Zeit für mich hätte.
    Als ich dann mit zwölf ins Internat Carlsburg zog, nahm ich das Gefühl mit, furchtbar undankbar zu sein. Heute bin ich meinem Vater sogar dankbar dafür, dass ich nicht nonstop mit ihm zusammen sein musste.
    Vor einiger Zeit fand ich ein altes Tagebuch auf dem Dachboden meiner Hamburger Wohnung. Da las ich, was ich mit dreizehn festgehalten hatte: »Ich hasse mich! Mein Gesicht, meine Figur, meine Unbeliebtheit. Bin ich an allem selbst schuld? Ich kann nicht mehr! Ich fühle mich leer, so als hätte man mir einen Bestandteil meines Lebens genommen. Ich brauche Hilfe!«
    Kinder wittern wie Spürhunde, wer sich als Opfer eignet. Bei mir begann das Mobbing im Internat schon am ersten Tag. Mit zwei Mädchen sollte ich in einem Zimmer wohnen. Naiv wie ich war, klebte ich mit Tesafilm drei Poster meiner Lieblingsband, der norwegischen Popgruppe a-ha, an die Wand über mein Bett. Nachdem mir die beiden Mitbewohnerinnen durch Blicke, Gesten und Bemerkungen zu verstehen gegeben hatten, wie »arm« sie das fänden, hängte ich sie ein paar Tage später wieder ab. Sie selbst hatten romantische Bilder in Pastellfarben aufgehängt, mit einem Mädchen und einem Pferd darauf. Aktuelle Popmusik hörte hier keiner, gut fand man die Weather Girls oder Earth, Wind & Fire. Warum habe ich damals nicht zu mir und meinem Musikgeschmack gestanden? Vermutlich, weil ich von meinem Vater kannte, dass ich mich sowieso nicht durchsetzen konnte. Er hatte mir stets vermittelt, dass ich so, wie ich war, nicht okay war – und diese fehlende Akzeptanz setzte sich im Internat fort. Da ich mich zu Hause nicht geliebt fühlte, sehnte ich mich danach, wenigstens hier gemocht und anerkannt zu werden. Das war schwer. Denn weder trug ich wie die anderen Mädchen bunte Pullover von Benetton noch Moonboots.
    Eigentlich machten sie sich über so ziemlich alles lustig, was mich betraf. Ich sagte, ehrlich und ahnungslos, dass mein Vater Spielhallen besaß und damit sein Geld verdiente, und in kürzester Zeit ging das Gerücht um, mein Vater wäre ein Zuhälter. Die Väter der anderen Kinder waren überwiegend hanseatische Kaufleute. Zwischen den selbstbewussten Mädchen und Jungen fühlte ich mich vollkommen hilflos. Trotz der Bilder in Pastellfarben ging es schon nach einigen Monaten nicht mehr um Tiere, sondern um das andere Geschlecht. Die meisten Kinder kamen in einen Hormonrausch, es drehte sich alles ums Küssen und »Heavy Petting«. Mich interessierten die Jungen in meiner Klasse zwar schon, aber ich wusste nicht, wie ich mit ihnen umgehen

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