Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Beispiel ein depressiver Mensch kurz davor ist, sich das Leben zu nehmen, und erst einmal beruhigt werden muss, damit er sich nicht umbringt, dann sind Benzodiazepine sinnvoll. Eine gängige Praxis ist es, Beruhigungsmittel die ersten zwei bis vier Wochen einzusetzen, bis die Antidepressiva wirken. Gegebenenfalls können sie etwas länger verschrieben werden, weil die antriebsfördernde Stimmung der Antidepressiva meist schneller entsteht als die Stabilisierung der Stimmung. Das hat zur Folge, dass häufig ein Suizidrisiko besteht: Die Patienten sind noch genauso verzweifelt wie vorher, haben aber mehr Antrieb â auch, um sich das Leben zu nehmen. Es gibt also mehrere Situationen, in denen die Gabe von Tranquilizern sogar notwendig ist. Doch gerade Hausärzte verschreiben sie oft noch anstelle von Antidepressiva â und das ist ein Skandal, weil so zu viele Menschen, besonders Frauen, in eine Sucht gleiten.
Wie wirken Benzodiazepine? Vermutlich kennt jeder die selige Wolke zwischen abklingendem Orgasmus und beginnendem Schlaf. Dieser sanfte Dämmerzustand, leicht dösend, hüllt einen in ein Wohlgefühl ein. So ähnlich fühlt es sich an, wenn Beruhigungsmittel wirken. Absolut wunderbar! Wer sich eben noch zermürbt im Bett wälzte oder gar panische Angst hatte, spürt auf einmal eine angenehme Sicherheit. In kaum einer halben Stunde entspannen sich die Muskeln, der Körper wird leicht schläfrig, und jedes Grübeln, jede Angst und jede Anspannung lösen sich auf. Tranquilizer beruhigen, egal wie verzweifelt und aufgelöst man vorher war. Und auf sie ist zu hundert Prozent Verlass. Wer sterben, aber irgendwie doch noch die Kurve kriegen will, muss »nur« genügend Benzodiazepine nehmen. Er wird dadurch aus der Panik herauskommen â und schlimmstenfalls einschlafen.
Die meisten Medikamentensüchtigen sind abhängig von Beruhigungsmitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine. Sie verstärken die Wirkung von körpereigenen Nervenbotenstoffen (Neurotransmittern), die die Erregbarkeit und Ãngstlichkeit herabsetzen. Sie stecken in Arzneipackungen, auf denen beispielsweise Valium, Tavor, Lexotanil oder etwas mit »-epam« am Ende steht, wie Diazepam (Valium). Dass es diese hochwirksamen Mittel seit rund fünfzig Jahren gibt, ist, wie gesagt, ein Segen. Sie wirken nicht nur gegen Panikattacken oder bei suizidalen Krisen, sie werden auch zur Beruhigung vor Operationen eingesetzt.
Von Benzodiazepinen sind besonders häufig Frauen abhängig. Viele Frauen. Konservativen Schätzungen zufolge sollen in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen medikamentenabhängig sein, davon sind mindestens eine Million weiblichen Geschlechts. Warum das so ist, weià Gerd Glaeske, Pharmakologe und Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Schon seit Jahrzehnten forscht er zu diesem Thema und gilt als einer der führenden Experten auf diesem Gebiet. »Männer und Frauen reagieren meistens sehr unterschiedlich auf Belastungen und Krisen«, erklärt Glaeske. »Frauen richten ihre Not eher nach innen, sie wollen funktionieren und mit allen in Harmonie leben, deshalb unterdrücken sie ihre Aggressionen und nehmen Tabletten, eine stille Sucht. Die Bewältigungsstrategien von Männern sind eher laut, sie greifen tendenziell zum Alkohol. Das spiegelt sich auch auf Klinikstationen für Abhängigkeitserkrankungen der Krankenhäuser wider. Dort trifft man zu 70 bis 95 Prozent alkoholabhängige Männer an.«
Diejenigen, die nach Beruhigungsmitteln süchtig sind, leiden aber oft an einer ernsthaften psychischen Erkrankung, etwa einer Depression. In vielen Fällen wird das nicht richtig erkannt â oder die psychische Erkrankung wird nicht adäquat behandelt. Statt eine Psychotherapie und Antidepressiva zu empfehlen, bekommt die Patientin ein Rezept für Benzodiazepine â vielfach ohne ausreichende Aufklärung über das Abhängigkeitspotenzial dieser Medikamente.
Doch man sollte wissen: Ja, diese Mittel helfen am schnellsten. Sie sind billig. Und sie lindern das Leid hervorragend. Aber sie können auch innerhalb kürzester Zeit abhängig machen. Eine einzige Tablette am Tag, kontinuierlich genommen, kann ausreichen, um die sogenannte Niedrigdosisabhängigkeit zu erzielen. Abhängige sind oft so benebelt, dass sie emotional abstumpfen und die Kontrolle über ihr Handeln verlieren. Das ist
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