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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Antidepressiva wirken. Eine Depression ist ja eine mehrdimensionale, hochkomplexe Krankheit, bei der es immer zu einer Wechselwirkung von biologischen (wie die Gene), sozialen (wie Arbeitslosigkeit) und psychologischen (wie eine Trennung) Faktoren kommt. Es gibt daher bisher auch nicht die eine, die spezifische antidepressive Wirkung. Untersuchungen zeigen, dass der Verlauf der Besserung stets ähnlich ist, egal welche Tabletten man gibt. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die heute bekannten Antidepressiva ein Schlüsselreiz für ein neues Gleichgewicht im Gehirn sind. Und abhängig vom Schweregrad gehen die Kurven beim Verlauf dann irgendwann auseinander.
    Und was ist mit den Patienten, bei denen beides nicht wirkt?
    Etwa 25 bis 30 Prozent der Patienten profitieren nicht von Antidepressiva, und etwa gleich viele nicht von Psychotherapie. Es ist selten, dass Patienten auf gar nichts reagieren, denn die Kombination aus beiden ist immer noch die überlegene Therapie. Wer aber zwei oder mehrere depressive Phasen durchlitten hat oder chronisch depressiv ist und in diesen Episoden weder mit Antidepressiva noch mit Psychotherapie Erfolge hat, kann sich als letztes Mittel für eine Elektrokrampftherapie ( EKT ) entscheiden. Der Patient wird dabei narkotisiert, und dann wird mit Strom ein epileptischer Anfall ausgelöst. Das klingt martialisch, und leider ist diese Methode immer noch mit vielen Vorurteilen und Ängsten belegt, weil sie in totalitären Ländern missbräuchlich angewendet wurde, die Indikation möglicherweise zu sehr ausgeweitet wurde oder durch die Medien ein Klischee konstruiert wurde. Denken Sie nur an den Film Einer flog über das Kuckucksnest! Eine moderne EKT dagegen erzeugt keine Gewalt, wirkt aber in 85 Prozent der Fälle – und kann jahrelanges, sehr schweres Leid beenden.
    Behandelt wird folgendermaßen: Der Patient bekommt eine kurze Narkose und spürt nur den Piks vom Tropf, durch den das Narkosemittel gegeben wird. Danach schläft der Patient für etwa zehn Minuten ein. Währenddessen werden zwei Elektroden an die Stirn geklebt. Einige Sekunden lang fließt dann Strom durch das Gehirn – und ein epileptischer Anfall wird ausgelöst. Da die Muskeln durch ein Medikament entspannt sind, macht sich der Anfall nur durch ein Zukneifen der Augen bemerkbar. Den Anfall merkt der narkotisierte Patient nicht. Wie der überhaupt grundlegend wirkt, kann die Wissenschaft noch nicht zu hundert Prozent belegen – man weiß einfach bislang nicht genau, was passiert, wenn im Gehirn alle Zellen auf einmal unter Strom gesetzt werden. Bisher geht man davon aus, dass es sich nach dem Anfall wieder komplett neu »programmiert«, wie beim Neustart eines Computers – und zwar ohne die vorher bestehenden Störungen der Botenstoffe. Nebenwirkungen sind eher selten, die häufigsten sind Gedächtnisstörungen.
    Machen Antidepressiva süchtig?
    Nein, gar nicht. Und selbst eine tödliche Überdosis ist mit ihnen sehr schwer zu erreichen. Es sind also relativ ungefährliche Medikamente. Natürlich nicht so unbedenklich wie Aspirin, sie sind ja auch verschreibungspflichtig. Beim Ansetzen der Medikamente muss man zudem einiges beachten – wie die Tatsache, dass bestimmte Nebenwirkungen nach einigen Tagen wieder abklingen und es sich lohnt, erst einmal zwei Wochen dranzubleiben. Und beim Absetzen ist es wichtig, dieses nicht abrupt, sondern langsam zu tun, sie »auszuschleichen«. Aber insgesamt gesehen sind es relativ harmlose Medikamente.
    Obwohl Antidepressiva nicht süchtig machen, fürchten immer noch extrem viele Patienten diese Psychopharmaka. Wie ist das zu erklären?
    Vielen Menschen ist es unheimlich, dass mit einem chemischen Mittel die Stimmung, der Antrieb oder Schlafstörungen beeinflusst werden können. All das ist ja mit der Persönlichkeit verknüpft und beeinflusst diese. Da fällt es verständlicherweise schwer, sich darauf einzulassen. Übrigens haben Männer wie Frauen gleich viel Angst vor der Einnahme von Antidepressiva, da gibt es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Auch aus der deutschen Geschichte heraus ist das Unbehagen verständlich, während der Hitler-Diktatur wurden Medikamente systematisch missbraucht. Und noch in den Siebzigerjahren gab es längst nicht so viele Medikamente mit so wenig Nebenwirkungen wie heute.

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