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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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Artikel im Zeit Magazin über einen Mann, der im Rollstuhl sitzt und der seit siebenundzwanzig Jahren Hilfe von Zivis bekommt.
    In dem Beitrag ging es in erster Linie um die auftauchenden Probleme, schafft man den Zivildienst ab, weniger darum, wie der Rollstuhlfahrer sein Leben in Zukunft ohne Zivis meistern muss. Trotzdem stieg Panik in mir auf. Ich konnte die sich ausbreitende Angst körperlich spüren, das Entsetzen fegte über mich hinweg wie ein Fieberanfall. Erster Schock: Der Mann sitzt im Rollstuhl. Was, wenn ich irgendwann auch im Rollstuhl sitze? Zweiter Schock: Der Mann muss zu bestimmten Zeiten liegen und sitzen, damit sich keine Geschwüre bilden (das stand in dem Beitrag). O Gott. Wie schrecklich muss so ein Leben sein. Dritter Schock: Der Mann will extra keine weiblichen Pflegekräfte, damit es nicht kompliziert wird. Dieser Mann hatte, so scheint es, noch nie im Leben Sex. Ein Horror! Für mich ist Sex das Schönste! Was muss das für ein Leben sein, ganz ohne Sex?
    Ich stand in Flammen. Die Angst kroch mir unter die Haut, lähmte mich von Kopf bis Fuß. Ich dachte: Was, wenn es noch schlimmer wird mit mir? Was, wenn ich es nicht schaffe? Was, wenn das Personal in der Klinik, in der ich mich gerade aufhielt, in Zukunft noch knapper wird? Werde ich die Hilfe bekommen, die ich brauche? Werde ich wieder gesund werden? Werde ich mein Leben auf die Reihe bekommen? In meinem Kopf war nur noch Chaos, nichts konnte ich mehr in seiner Bedeutung erkennen und richtig einordnen.
    Nach dem Bericht über den Mann im Rollstuhl las ich noch einen über den Südsudan. Zu meiner Panik kamen jetzt noch Schuld und Hilflosigkeit dazu. Ich fühlte mich schuldig, den Menschen im Südsudan nicht zu helfen. Ich wusste von ihrem Elend und tat – nichts. Ich fühlte mich mitverantwortlich für ihre Not, lebte ich doch selbst wie die Made im Speck. Ich dachte: Ich habe eine saubere Wohnung, Strom, fließend Wasser. Ich werde im Krankenhaus gut versorgt. Die mir völlig unbekannten Menschen, die in Lehmhütten leben und Plastik verbrennen, waren mir auf einmal so nah, als wäre ich selbst betroffen. Dann stieg wieder Angst in mir auf. Die Welt ist ein Furcht einflößender Ort, fieberte ich. HIV -Waisen in Südafrika, Kinder-Prostituierte in Thailand, Tausende Japaner, die nach dem Reaktorunglück in Fukushima immer noch in Lagern ausharren müssen. Alles war so nah, als würde es mich unmittelbar betreffen. Ich wollte schreien. Diese Not war zum Verzweifeln. Das alles passierte wirklich. Es war kaum zu ertragen.
    Auch viele gesunde Menschen finden den Zustand der Welt beängstigend. Aber nicht jeder Mensch und auch nicht jeder Depressive reagiert so empfindlich, wie ich es an diesem Tag tat. Manche depressive Patienten sind völlig abgeblockt und haben kaum noch einen Zugang zum »Draußen« und zu ihren Gefühlen. Andere werden davon förmlich überschwemmt. Ich dachte erst, ich hätte eine Panikattacke. Doch ich hatte nicht das Gefühl, gleich sterben zu müssen, keine Luft mehr zu bekommen oder umzufallen, wie es für Panikattacken typisch ist. Auch hatte ich kein Herzrasen, hatte nicht gezittert, und mir war nicht schwindelig. Es war eher so, dass ich keine Grenzen mehr spürte zwischen den anderen und mir, zwischen ihrer Not und meiner. Diese innere Verschmelzung lähmte mich. Es war nicht das letzte Mal, dass ich in einen solchen Zustand geriet. Ich bin dann unfähig, beispielsweise mein Bad zu putzen oder mir etwas zu essen zu machen, weil das Elend der anderen mich so fest im Griff hat. Mir tut jedes einzelne Schicksal so leid. Und ich bekomme bei jedem einzelnen Schicksal Angst, dass es mir auch so ergehen könnte. Ich kann Krebs bekommen. Blind werden. Oder plötzlich gelähmt sein.
    Weil ich mich so in das Leiden anderer hineinsteigere, dies zu meiner Form der Depression gehört, nehme ich außer den Antidepressiva noch Neuroleptika, auch Anti-Psychotika oder Nervendämpfungsmittel genannt. Mit diesen Medikamenten werden eigentlich Psychosen behandelt, also gravierende Realitätsverluste. Dabei leiden die Patienten an Wahnvorstellungen oder hören Stimmen. Man kann Neuroleptika aber auch off label einsetzen, was heißt: bei anderen als den ursprünglich zugeordneten Krankheiten – etwa bei Depressionen. Denn viele dieser Mittel wirken schlaffördernd, und damit sind sie eine gute Alternative zu den

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