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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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meine Geschichte so kompliziert ist – wie eben viele Geschichten von depressiven Personen kompliziert sind –, versuche ich es mit einem Bild zu erklären: Als Björn und dann Philipp sich von mir trennten, kam es mir vor, als würde ich in einem See ertrinken. Früher standen da auch schon immer Menschen am Ufer, doch mit dem Rücken zu mir. Dr. Levi war der Erste, der sich zu mir umdrehte und auf mich zukam. Er rief: »Ja, ich sehe, Sie ertrinken gerade.« Zwar blieb er bei mir, doch er warf mir keinen Rettungsring zu. Offenbar dachte er, ich könnte schwimmen. Ich paddelte aber nur verzweifelt mit Armen und Beinen, Schwimmbewegungen hatte ich nie gelernt.
    Der Analytiker sah schließlich, dass ich unterging. Er formte die Hände zu einem Trichter und schrie mir zu, dass hinter mir jemand stehen würde, der einen Rettungsring hätte. Ich dachte, wenn ich mich umdrehe, geht er weg. Ich war davon überzeugt, dass er sich heimlich davonmachen will. Doch schließlich vertraute ich ihm, wand den Kopf um, und tatsächlich, da kam der Ring geflogen.
    Ãœber Dr. Levi und die Klinik kam ich dann also zu Dr. Weston. Ich hatte unwahrscheinliches Glück: Er hatte tatsächlich ein halbes Jahr nach meiner Entlassung aus der Klinik, im Frühling2007 , einen Therapieplatz frei. Er stieg zu mir ins Wasser, hatte keine Angst davor, selbst nass zu werden und mich anzufassen, und brachte mir schließlich das Schwimmen bei. Seine Praxis lag am Großneumarkt in der Hamburger Neustadt, es schien früher ein Atelier oder ein Laden gewesen zu sein. Ich schätzte ihn auf um die sechzig, sein Haar war schütter, die Schläfen grau; sein aufmerksamer Blick erinnerte mich an einen Hamster. Nach der dritten Sitzung wusste ich: Der ist es. Weil er mir so sympathisch war und weil irgendetwas an ihm mich magisch anzog. Und weil er tatsächlich die Heide-Sprache sprach.
    Wir saßen uns auf schwarzen Ledersesseln gegenüber, zwischen uns ein kleiner Glastisch, auf dem verschiedene Muscheln und Steine lagen. Ich war wieder einmal verzweifelt, weil ich das Pensum, das ich mir selbst auferlegt hatte, nicht schaffte. So sehr sehnte ich mich danach, dass er verstand, warum mir das so wichtig war. Deshalb sagte ich zu ihm: »Ich wünschte, ich könnte so sein wie Christiaan Barnard. Können Sie das denn nicht verstehen?« Mir war klar, dass Dr. Weston, ausgebildeter Psychotherapeut und Arzt, wissen würde, dass der Südafrikaner 1967 als Erster bei einem Menschen ein Herz transplantiert hat. Aus diesem Grund sprach ich nicht über meine Gefühle, sondern wählte ein Beispiel aus seiner Welt, der Medizinerwelt. In der Hoffnung, er würde, wenn schon nicht mich, dann doch wenigstens diese Analogie begreifen. Dr. Weston schwieg einen Moment, sah mich ernst an und antwortete: »Doch. Das kann ich verstehen.« Und ich fühlte, dass es stimmte. Es war, als ob ich meine Empfindungen in den Raum zwischen uns gegeben hätte, und er gab seine dazu und trat so mit mir in Kontakt. Er speiste mich nicht mit den typischen therapeutischen Gegenfragen ab: »Warum glauben Sie, dass Sie Außergewöhnliches leisten müssen?« Oder: »Kommt da nicht ein unrealistischer Größenwahn durch?« Oder: »Jeder Mensch ist unterschiedlich, hat verschiedene Startchancen und Ressourcen, Sie müssen sich mit dem Thema Grenzen auseinandersetzen.« Nein, er teilte mein Gefühl. Ich war nicht länger allein.
    Und so wagte ich es, ihm nach relativ kurzer Zeit zu erzählen, dass ich zwanghaft aß. Es war mir aber trotzdem so peinlich, dass ich unruhig auf dem Ledersessel hin und her rutschte, an Dr. Weston vorbeisah und die rote Couch fixierte, die am anderen Ende des Raums stand. »Jetzt ist es Viertel nach vier, und ich habe heute schon drei Nutella-Brötchen, eine Packung Toffifee, eine Pizza und zwei Tafeln Kinder-Schokolade gegessen«, sagte ich. Schrecklich, diese Mengen zuzugeben. »Ich will das gar nicht alles essen, aber es ist wie ein Zwang, die Kontrolle habe ich längst verloren.«
    Die Sucht hatte mich so fest im Griff, dass meine Angst davor größer war als meine Scham, darüber zu reden. Schließlich blickte ich verstohlen in seine Richtung. Und da war er, der Moment, auf den ich jahrelang, in jeder Therapie, gewartet hatte. Dr. Weston sah mich warmherzig an und sprachdie erste Deutung aus:» Sie haben Hunger, Frau Fuhljahn. Auch

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