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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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meine Fassade. Auch meine ersten Therapeuten wurden nicht müde, mir zu sagen, wie leistungsfähig ich doch sei. Es war, als würden sie sagen: »Schauen Sie, Ihre Haut hat nur Schrammen und blaue Flecken. Klar, das tut weh, aber es ist nicht so bedenklich.« Dass ich schwere innere Verletzungen hatte, innerlich verblutete, sah erst Dr. Weston. Der Unterschied war: Als ich ihm zu verstehen gab, dass ich unerträgliche Schmerzen hätte, hielt er sich nicht mit Äußerlichkeiten auf, sondern untersuchte mich gründlich. Dass ich ein verhungerndes Baby war, nur ummantelt von der Tüchtigkeit eines Roboters, sah zwanzig Jahre lang niemand. Selbst benennen konnte ich es in diesen Worten auch nicht, ich sprach vor allem davon, erschöpft und überfordert zu sein. Im Nachhinein finde ich es bemerkenswert, dass ich in meinen ersten Therapien fast ausschließlich über die Probleme mit meinem Vater sprach. Meine Mutter war kein Thema. Nach der Trennung von Björn meinte mein damaliger Verhaltenstherapeut: »Sie haben schon so viele Hürden gemeistert, Sie werden auch diese Trennung überstehen.« Er bemerkte nicht, dass ich schon ewig im roten Bereich war. Ich hätte dringend ein Krankenhaus gebraucht, doch nachdem er das gesagt hatte, riss ich mich zusammen. Wie banal, wie weitverbreitet: Liebe gab es eben nur gegen Leistung. Ich wollte doch eine brave Patientin sein.
    Zwei Jahre später trennte sich Philipp von mir. Die Trauer um beide Partner ließ meinen inneren Konflikt, die bedürftige Seite gegen die der absoluten Härte, aufbrechen. Nach den Trennungen brach mein inneres Kind aus dem Keller aus und fing an, mit dem ihn drillenden Teil meiner Persönlichkeit zu kämpfen. Es weigerte sich, weiter zu parieren: Und ich wurde depressiv. Es ging nichts mehr. Da ich meinem inneren Kind keine Fürsorge, kein Mitleid und keinen Trost geben konnte, sondern es immer nur anschnauzte: »Geh laufen! Reiß dich zusammen! Hör auf zu essen! Sei nicht so faul! Du musst arbeiten! Lies gefälligst Zeitung! Streng dich mehr an!«, sorgte es selbst für sich, indem es mich zwang zu essen.
    Essen, lernte ich von Dr. Weston, war mein Ersatz für mütterliche Zuwendung. Zum einen, weil die immer, bei allen Kindern, mit dem Stillen, dem Füttern beginnt – Muttermilch ist süß! Und zum anderen, weil es in der Welt meiner Mutter ganz viel Süßes für mich gab, wie den warmen Haferbrei zum Frühstück und die selbst gebackenen Torten an meinem Geburtstag. Meine Mutter erfand rosafarbene Sahne: durch einen Schuss Kirschsaft. Nachdem sie gestorben war, verbot mir mein Vater Süßes.
    Mit Dr. Weston konnte ich auch darüber sprechen, dass ich mich trotz dieser Erkenntnisse schuldig fühlte. »Es ist ja nicht so, als hätte ich gar nichts bekommen in meinem Leben«, sagte ich. »Jahrelang habe ich Therapie gemacht, meine Freunde unterstützen mich, mir wird doch geholfen. Wieso habe ich dann immer noch das Gefühl, ich verhungere? Vielleicht bin ich doch ein Parasit.« Als ich das aussprach, hatte ich das Gefühl, ich wäre plötzlich entblößt – und befreit. Zwar fürchtete ich seine Antwort, aber es war auch eine enorme Erleichterung, mein innerstes Gefühl, dass ich nie genug bekam, endlich einmal offen auszusprechen.
    Wie so oft reagierte Dr. Weston nicht spontan, sondern dachte erst einen Moment nach, bevor er antwortete. »Es ist wie bei einem Kind mit einer Laktose-Intoleranz«, erklärte er dann. »Man gibt ihm reichlich Milch, doch das Kind erbricht sich immer wieder und hat Durchfall. Da kann man natürlich sauer sein auf den Säugling und denken, das dumme Ding, es bekommt doch genug, was soll das? Oder man kann sich fragen, ob diese Milch vielleicht nicht das Richtige ist für dieses Baby.« Er lächelte mich an, seine blauen Augen umgab dabei ein Kranz von Falten, und sprach die zweite Deutung aus: »Sie brauchen das Passende.«
    Da war es wieder, dieses Phänomen: Dr. Weston verstand nicht nur die Heide-Sprache, er sprach sie auch! Vor Erleichterung brach ich in unkontrolliertes Schluchzen aus. Er reichte mir erst ein Taschentuch, dann ein zweites, schließlich die ganze Packung. Dabei berührten sich kurz unsere Fingerspitzen, und mir schien, als hätte man mich unter Strom gesetzt. Nein, ich war nicht der kleine Häwelmann. Zumindest Dr. Weston fand es vollkommen in

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