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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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Ordnung, dass ich nicht irgendeine Hilfe nach dem Gießkannen-Prinzip brauchte, sondern eine, die zu mir passte. Heide-Hilfe für Heides Not. Und ja, Dr. Weston passte zu mir. Wir waren dabei, mein inneres Kind kennenzulernen, und kümmerten uns um es. Dr. Weston sprach dann immer von der »kleinen Heide«. Es rührte mich jedes Mal, dass er wusste, wie ich mit Vornamen heiße.
    Nach gut einem Jahr fühlte ich mich von Dr. Weston sehr geliebt, und er wurde für mich einer der wichtigsten Menschen auf der Welt. Doch so viel wusste ich nun schon über psychoanalytische Therapien: War das nicht alles nur Übertragung? Ließ die Behandlung die Liebe für meine Mutter wieder aufleben, die ich, weil sie nicht da war, wohl aber er, auf meinen Therapeuten projizierte? Oder hatte ich mich in Dr. Weston verliebt? Immerhin war ich begeistert von ihm. Es fühlte sich so an, als wäre er meine Mutter, mein Vater, mein Mentor, mein Idol, mein Hund und mein Schwarm. Aber kannte ich ihn nicht nur als Arzt und gar nicht persönlich?
    Wenn es um Liebe geht, bin ich ein lebendes Klischee. Es gibt wahrscheinlich Tausende Frauen, die genauso empfinden wie ich damals. Ich dachte immer: Wenn mich nur jemand lieben würde, wäre ich geheilt. Seit meiner Kindheit sehnte ich mich nach Liebe wie eine Verdurstende nach Wasser. Aber meine Sehnsucht war so grenzenlos, dass ich sie versteckte. Denn ich hatte Angst, ein anderer könnte von meinen maßlosen Gefühlen abgeschreckt werden. Unbewusst hatte ich immer Elternersatz gesucht, bei Lehrern, später bei den Eltern meiner Freundinnen, noch später bei meinem ersten Therapeuten. Aber da ich ja wusste, es gibt keine neuen Eltern für mich, und ich mich sowieso für einen Blutegel hielt, durften diese Empfindungen nicht sein.
    Meine heimlichen Hoffnungen legte ich auch in meinen jeweiligen Partner: Bis ich fünfunddreißig war, war ich in meinen Beziehungen irgendwie davon überzeugt, wenn mich derjenige nur wirklich, wirklich lieben würde, könnte ich heilen. Dann würde ich mich endlich »ganz« fühlen. Als ein selbstverständlicher Teil der Welt, nicht mehr ausgestoßen. Ich wäre endlich etwas wert. So strengte ich mich immer sehr an: Um geliebt zu werden, um liebenswert zu sein, hätte ich alles getan. Dazu gehörte, nicht zu klammern. Also verkniff ich es mir, jeden Tag zu meinem Freund zu gehen und unterwürfig zu fragen: »Liebst du mich? Liebst du mich auch wirklich? Warum liebst du mich? Bitte verlass mich nicht. Bitte sag mir, dass du mich immer lieben wirst. Bitte versprich mir, dass du mich nie verlässt.«
    Weil ich solche Angst davor hatte, abgelehnt zu werden, habe ich mich meinen Freunden gegenüber nie so bedürftig gezeigt, wie ich de facto war. Nur Tabea, mit der ich schon im Sandkasten gespielt habe, zeigte ich Teile meines Kerns – sie kannte als Einzige meine Mutter. Unsere zersplitterte Familie, das ganze Drama, all die schmutzige Wäsche. Noch heute erinnert sie sich an mehr Details aus meiner Kindheit als ich. Nur ihr habe ich geglaubt, dass sie mich wirklich lieb hat – und dass sie mich nie verlassen würde. Als ich 2006 das erste Mal ins Krankenhaus kam, sind etliche Freunde aus allen Wolken gefallen. Zum einen, weil sie dachten, ich wäre doch so stark. Zum anderen, weil sie nach und nach wichtige Ereignisse aus meinem Leben erfahren haben, von denen sie bis dahin nichts wussten – zum Beispiel, dass ich im Heim war. Dass meine Mutter trank. Dass ich einen Halbbruder habe.
    Durch mein frühes »Training« kann ich bis heute Menschen sehr gut spiegeln. Wie viele Depressive bin auch ich begabt darin, mich um andere zu kümmern. Nachhaltig kann ich die Bedürfnisse von anderen erfüllen. Solche nach Aufmerksamkeit, Interesse, Hilfe, Bewunderung, Anerkennung, Unterstützung und Nähe. Ich höre stundenlang zu, fokussiere mich ganz und gar auf mein Gegenüber, gebe jemandem das Gefühl, er oder sie sei der faszinierendste Mensch, den ich je getroffen habe. Denn mit jedem Menschen, dem ich bis dahin begegnet war, übte ich, so zu sein, wie man anerkannt wird. Pflegeleicht. Nett. Hilfsbereit. Unterhaltsam. Zuverlässig. Charmant. Pflichtbewusst. Brav. Nicht die Zumutung für den Vater, die Nutte für die Internatskinder, die Lolita für die Männer. Gemocht zu werden wurde nach dem Abitur zu meiner Spezialdisziplin. Ich lernte, was

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