Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
im übertragenen Sinn. Das ist die Gier des Säuglings.« Seine Worte trafen mich wie der Blitz. Er hatte recht. Ich fühlte mich, als würde ich verhungern. Nicht nur, wenn ich mich mit SüÃigkeiten vollstopfte, sondern grundsätzlich. Nie hätte ich das aussprechen dürfen, zu sehr war in meinem Kopf verankert, dass mein Vater mich immer undankbar genannt hatte. Nur meinem Tagebuch konnte ich es anvertrauen. Im Sommer 2007 schrieb ich: »Wenn ich die Seiten zurückblättere, handelt dieses Buch von unerfüllten Wünschen, Sehnsüchten und Trauer. Von Pein und Selbstquälerei, von Frust und Angst. Ich brauche offenbar etwas, kompensiere mit dem Essen etwas, habe ein nahezu unstillbares Bedürfnis nach etwas. Was ist es? Worum geht es hier? Würde es mir besser gehen, wenn ich mehr Sex hätte? Wenn ich wieder einen Freund hätte? Wenn ich essen könnte, was ich wollte? Wenn ich nur noch Reportagen schreiben würde?«
Allein war ich nicht darauf gekommen, dass ich seelisch hungerte. Aber nun erforschte ich mit Dr. Weston, Sitzung für Sitzung, die unbewussten Auslöser meiner Essstörung und der darunterliegenden Depression. Heute kommt mir alles so offensichtlich vor. Damals hatte ich das Gefühl, ständig eine Erleuchtung nach der nächsten zu haben. Warum schlang ich bei meinen Fressattacken vier Stück Sahnetorte herunter? Weil meine Mutter Konditorin war. Meine LieblingssüÃigkeit war immer schon Kinder-Schokolade. Zufall? Nein, sie war ja für Kinder. Auf diesem Weg konnte ich mir â ganz legal â ein Stückchen Kindheit holen. Warum hatte ich seit dem Auszug bei meinem Vater mehr und mehr Schulden angehäuft, bis ich mit Tausenden von Euro im Minus war? Weil ich immer das Empfinden hatte, dass das, was mir zur Verfügung stand, nicht genug war. Warum wollte ich unbedingt einen Neufundländer? Wenn schon einen Hund, dann so viel Hund wie möglich â auÃerdem erinnert diese Rasse an Teddybären. Warum war ich von sieben Tagen die Woche mindestens fünf auf Achse, beim Sport, bei Lesungen? Ich traf mich mit Freunden, ging zum schwedischen Weihnachtsbasar, zur Gedenkfeier an die Bücherverbrennung im Zweiten Weltkrieg, ins Uni-Kino, versuchte, alles in meinen Terminkalender hineinzupressen, was nur irgendwie ging.
»Mehr, mehr«, schrie ich innerlich, wie der kleine Häwelmann in dem gleichnamigen Kinderbuch von Theodor Storm. Weil ich nicht verzichten konnte. Weil ich seelisch ein hungerndes Kind war. Als meine Mutter starb, war ich auf dem emotionalen, instabilen Entwicklungsstand eines vernachlässigten Kindes stehen geblieben. Dieser Teil meines Ichs hat gewaltige Bedürfnisse und Sehnsüchte. Doch bei meinem Vater gab es dafür keinen Raum, so habe ich alle diese Gefühle immer unterdrückt. Wenn ich weinte, wetterte er: »Hör sofort auf mit dem Theater.« Als ich ihm sagte, dass ich Angst im Dunkeln hätte, lachte er mich aus. Ich wollte gern segeln gehen (wie meine Mutter), doch er zwang mich zum Tennisunterricht, obwohl ich extreme Ballangst hatte. Ich lernte von ihm, was er mich lehrte: Disziplin, »erwachsenes Verhalten«, eiserne Strenge. Mehr und mehr verinnerlichte ich seine MaÃstäbe â und wurde zu mir selbst unmenschlich und grausam. Er fand mich mit sechzig Kilo zu fett, ich mich auch. Er fand mich hässlich und dumm, ich mich auch. Mein kindliches Ich, meine Bedürfnisse nach Spiegelung, Anerkennung und Zuwendung sperrte ich in einen dunklen Keller und spaltete sie ab.
Ich spürte genau, dass mein Vater mich nicht so liebte, wie ich war. Und weil ich es nie schaffte, für ihn gut genug zu sein, fing ich an, mich zu hassen. Für ihn zählten nur Superlative: Einen Mercedes S-Klasse fuhr er im Alltag, waren wir eingeladen, musste der Rolls-Royce aus der Garage geholt werden. Noch von meiner Mutter angeregt, nahm ich Klavierunterricht. Die Musik berührte mich, aber ich hatte keine Lust zum Ãben und lernte nie die Noten. Mein Vater kaufte trotzdem einen Konzertflügel von Steinway. Der verstaubte nach und nach im Wohnzimmer, und ich hatte jedes Mal, wenn ich ihn sah, ein schlechtes Gewissen. Mir war aber klar, dass ich nie eine einzigartige Pianistin werden würde. Also suchte ich weiter, um irgendwo so herausragend zu sein wie Christiaan Barnard: damit mich mein Vater endlich lieben würde.
Zu funktionieren wie eine Maschine, wurde
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