Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Realität und der eigenen Verantwortung konfrontieren und gleichzeitig Hilfe anbieten, um Schwierigkeiten zu bewältigen. Ihn in seinem Selbstbewusstsein und seiner Autonomie stärken. Weder die Mutter noch der Therapeut müssen dabei perfekt sein. Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott prägte den Begriff der »good enough mother« , der »ausreichend guten Mutter« â eine solche Mutter geht so weit auf die Bedürfnisse des Babys ein, dass dieses sich nie ganz verlassen fühlt. Doch kein Kind (und kein Patient) wird eben nur durch Liebe erzogen. Auch liebende Eltern können schlechte Eltern sein. Denn man muss Kindern auch mit einer erwachsenen Verantwortung begegnen. Das bedeutet zum Beispiel, einem Einjährigen die giftigen Vogelbeeren aus der Hand zu nehmen, selbst wenn er dann wie am Spieà brüllt. Das bedeutet, Kindern nicht die eigenen Sexualitätsprobleme aufzuladen: »Da unten ist bäh-bäh, nicht anfassen.« Und es bedeutet, bei einer Teenie-Schwangerschaft zu unterstützen, statt zu verurteilen.
Die Beziehung zu Dr. Weston wurde das Fundament für die Gesundung meines Ichs. Das Haus, das darauf entstehen sollte, der Mensch, die Heide, die ihr inneres Kind versorgt und integriert, bauten wir mühsam mithilfe der therapeutischen Technik auf â ein bisschen analog zur elterlichen Erziehung. Dr. Weston war sozusagen ein Profi-Elternteil auf Zeit und Psychotherapeut in einem. Wenn es nur darum ginge, dass man versorgt und »bekümmert« wird, bräuchte man ja niemanden, der jahrelang bestimmte Methoden studiert und erprobt hat.
Nach dem Verstehen und der Fürsorge, nach der Erkenntnis, dass eine seelische Heilung mehr braucht als Liebe, kam der wirklich anstrengende Teil. Vom seelischen Kind musste ich mich sozusagen über die Pubertät zur Erwachsenen im Schnelldurchlauf entwickeln, Experten nennen das »Nachreifung«. Das Ziel war, bei Schwierigkeiten nicht wie bisher in kindliche Verhaltensmuster zurückzufallen und darin stecken zu bleiben (Regression), sondern sich weiterzuentwickeln. Ich sollte schwimmen lernen ohne Schwimmflügel. Genau wie Dr. Weston war ich Teilnehmer und zunehmend auch Beobachter einer/unserer Beziehung und eines Arbeitsprozesses zugleich. Doch er hatte eine Meta-Ebene, eine erwachsene Reife, eine Professionalität, die ich nicht hatte. So merkte er schnell, dass ich lernen musste zu mentalisieren. Ich wusste nicht mal, was das ist. In der Praxis lief das dann so ab: Die Krokodilstränen kullerten mir über die Wangen, ich schniefte in mein drittes Taschentuch: »Jetzt sind Sie zwei Wochen nicht da, Sie werden nie an mich denken, und ich muss sehen, wie ich allein klarkomme.« Er beschwichtigte mich nicht mit Sprüchen, sondern verstand, dass ich mir wirklich nicht vorstellen konnte, dass er mich nicht vergessen würde. Ich glaubte, ich wäre tatsächlich aus den Augen, aus dem Sinn, sobald ich aus der Tür war. So ist das bei kleinen Kindern: Verlässt die Mama in der Eingewöhnungsphase die Kita, heulen sie los. Wenn man ihnen sagt: »Ich komme doch in zwei Stunden wieder«, begreifen sie das nicht. Sie müssen wieder und wieder und wieder die Erfahrung machen, dass die Mutter zuverlässig zurückkehrt.
Im Alter von ungefähr vier Jahren lernen sie dann, in kleinen Schritten über sich und andere zu reflektieren. Sie entwickeln ein Gefühl dafür, dass die emotionale Bindung bestehen bleibt, auch wenn die Person nicht im Raum ist. Diese innere Sicherheit bekommen sie durch Erklärungen, hauptsächlich aber durch das seelische Erleben. Und so erklärte Dr. Weston meinem Verstand, wie eine solche mentalisierungsbasierte, intersubjektive Behandlung funktioniert. Gleichzeitig lieà er mich wieder und wieder die Erfahrung machen, dass er jedes Mal zurückkehrte, sich zuverlässig an mich erinnerte und den Faden unseres Gesprächs an der Stelle aufnahm, an der wir stehen geblieben waren.
Lange Zeit habe ich mir gewünscht, noch einmal Kind zu sein. Bis ich begriff, dass es zwar wichtig war, dass Dr. Weston mir sagte, er würde mich nicht vergessen, aber dass ich durch die Gefühle, die man bis zum Erreichen der inneren Stabilität, der Mentalisierungsfähigkeit, erlebt, »durchmusste«. Also bekam ich immer wieder Wasser in die Augen und in die Lungen, hustete, ging manchmal ein Stück unter, hatte Angst. Dr.
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