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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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machte, könnte das nur ein Zeichen dafür sein, wie wichtig ich ihm war. Wenn ich ihm wichtig wäre, würde er mich vielleicht lieben, würde er mich lieben, würde ich vielleicht heilen …
    Nach zwei Jahren überwand ich mich, ihm zu sagen, dass ich während der Sitzungen bei ihm immer fürchterlich auf die Toilette müsse. Er antwortete mir, dass er pinkelnde Frauen wirklich sexy finden würde. Mir war das entsetzlich unangenehm, doch ich sah das als mein Defizit an: Ich war einfach spießig und verklemmt. Als ich Dr. Weston davon erzählte, starrte er mich mit aufgerissenen Augen an, sein Kopf ruckte nach vorn wie bei einer Schildkröte. Vollkommen untherapeutisch fragte er: »Das hat er nicht wirklich gesagt?!« Dann erzählte er mir behutsam etwas über die orale und die anale Phase eines Kleinkinds. Dass ihm aufgefallen sei, meine körperlichen Symptome hätten immer mit Ernährung und Verdauung zu tun. Es stimmte: Jahrelang litt ich entweder unter massivem Sodbrennen, Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall. Er erklärte mir, dass psychoanalytisch gesehen mein Körper ausdrückte, worunter meine Seele litt: Meine Bedürfnisse befriedigte ich, wenn überhaupt, über den Mund, übers Essen (Oralität), und ich sei sinnbildlich gesehen noch nicht »trocken«, hätte meine Verdauung noch nicht selbst im Griff. Kleinkinder würden das erst in der analen Phase lernen, die auf die orale folgen würde. Es war mir wieder furchtbar peinlich, über diese Themen zu sprechen, aber jetzt konnte ich zumindest etwas damit anfangen.
    Und so entwickelte sich meine Therapie mit Dr. Weston ganz anders, als ich es mir je vorgestellt hatte. Ich gewann so viel Zutrauen zu ihm, dass ich mich ihm im Lauf der Jahre immer mehr zeigte. Mit meinen Ängsten (»Werde ich jemals wieder einen Freund haben?«), mit meiner Überempfindlichkeit (»Sie gucken so streng, sind Sie sauer auf mich?«), meinem enormen Bedürfnis nach Zuneigung (»Mögen Sie mich eigentlich? Warum?«), meiner Sehnsucht nach Aufmerksamkeit (»Wenn ich bei Ihnen anrufe, gerate ich zumindest für den Moment in Ihr Bewusstsein!«) und meiner Instabilität (»Ja, letzte Woche ging es mir besser, aber am selben Abend habe ich schon wieder stundenlang geweint!«). Ich mutete mich ihm tatsächlich zu.
    Eines Tages fragte ich ihn, wie er es schaffe, mich zu ertragen. Er lächelte und sagte: »Wir muten uns einander zu. Und das halten wir gemeinsam aus.« Sensationellerweise mochte er mich also. Ein Wunder, es war, als ob mir jemand ein neues Universum mit einer längst vergessenen Sprache geschenkt hatte. Ich fühlte mich geliebt. Mein Leben lang hatte ich mich danach gesehnt. Doch geheilt war ich dadurch nicht. Eine ernüchternde Erkenntnis. Zwar entstand ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit in meinem Leben; unterm Strich ging es mir stetig besser. Aber es gab trotzdem genügend Tage, die ich weinend unter der Bettdecke verbrachte und überzeugt davon war, nie wieder gesund zu werden.
    Nach zwei Jahren Therapie bei Dr. Weston traf mich fast der Schlag, als ich versuchte, meine fundamentale Enttäuschung in vorsichtige Worte zu fassen, und er mit viel Nachdruck meinte: »Das stimmt. Liebe allein genügt nicht. Warum nicht, darüber gibt es ein ganzes Buch.« Das ich dann las. Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim hatte 1950 in Liebe allein genügt nicht seine Erfahrungen mit emotional gestörten Kindern festgehalten. Ich fand mich darin wieder. Lernte, dass jedes Kind und jeder Klient mehr brauchen als Liebe, um zu wachsen und sich zu entwickeln. Therapeuten, die davon überzeugt sind, sie heilen ausschließlich mit Liebe, machen sich Illusionen. Genau wie Patienten, die meinen, ihr Psychotherapeut könnte ihnen den Vater, die Mutter, beide Eltern oder den Partner ersetzen.
    Liebe, Zuneigung, Wertschätzung, das alles ist existenziell wichtig. Auch in der Therapie. Der Therapeut ist zwar nicht die Ersatzmutter, aber er sollte die Eigenschaften einer guten Mutter mitbringen und dem Patienten eine verlässliche und authentische Beziehung anbieten. Seine Sicht teilen. Mitgefühl zeigen. Emotionalen Halt bieten. Hoffnung ausstrahlen. Ihm seine Angst nehmen. Verschiedene seelische Perspektiven vermitteln. Die emotionale Resonanz des Therapeuten sichtbar und fühlbar machen (Intersubjektivität). Den Patienten mit der

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