Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
ich. »Aber ich habe ihm das nur ein einziges Mal gezeigt, mit fünfzehn. Das Ergebnis war, dass er mir mit voller Wucht eine Ohrfeige gab â und damit einen Ausblick, was noch passieren könnte.«
Dr. Weston sah mich betroffen an. In dieser Stunde fingen wir an, uns ausführlich mit meinem Zorn auseinanderzusetzen, dem von damals und dem von heute. Wie bei so vielen Depressiven war meine Verlustangst so groÃ, dass ich mich immer bemüht hatte, konstruktiv, verbindlich und freundlich zu sein. Philipp war der Erste, der mir sagte, dass ich unglaublich austeilen würde. Doch ich selbst empfand es nie so, nach meinem Gefühl verteidigte ich mich nur gegen seine Angriffe. Wenn meine Aggressionen überhaupt irgendwo Raum fanden, dann beim Ju-Jutsu. Doch auch dort erlebte ich mich immer als defensiv und verzagt, ich war schlieÃlich um der Selbstverteidigung willen dorthin gegangen. Von Dr. Weston lernte ich zu meiner Verblüffung, dass Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, auch hochgradig wütend sind â auf denjenigen, der sie gekränkt und/oder verlassen hat. Doch sie haben Angst, dass die für sie lebenswichtige Beziehung kaputtgeht, wenn sie ihren Groll zeigen â also richten sie ihn gegen sich selbst und kommen der endgültigen Trennung möglichst durch Suizid zuvor. Dr. Weston bot mir so viel Sicherheit, dass ich meine ganze verdrängte Wut an ihm auslieÃ, anstatt mich umzubringen.
Mit den drei kleinen Sätzen, den drei Deutungen hat es angefangen. Daraus wurde eine einzigartige jahrelange Beziehung, wie ich sie noch nie erlebt habe. Immer wieder kam ich mir vor wie eine Jacht auf dem Atlantik, die vom Sturm hin und her geworfen wird. Der Bug kracht ins Wellental, der Wind heult in den Wanten, die Sicht ist gleich null. Auf der Karte konnte ich sehen, dass ich grob den richtigen Kurs hielt, der Blick nach vorn war aber beängstigend. Dr. Weston war der Kapitän, von dem ich das Rudergehen lernte, damit ich später mein eigenes Boot allein steuern konnte. Was mich bei der Stange hielt, war, dass ich den Erfolg am eigenen Leib erfuhr. Beim Segeln kommt der Moment, in dem man nur noch hin und wieder auf den Kompass schaut und das Steuerrad ansonsten nach Gefühl bewegt. In der Therapie erlebe ich, dass sich meine Emotionen, mein Verhalten ändert â und das half mir endlich. Dass ich heute etwas kann, was früher unmöglich war.
Es kam nämlich der Tag, an dem ich morgens Müsli aÃ, mittags Nudeln und abends Brot. Keine SüÃigkeiten. Dr. Weston fuhr vier Wochen in den Urlaub, und ich fühlte mich so sicher mit ihm verbunden, dass es mir in dieser Zeit gut ging. Irgendwann konnte ich wieder sechs Stunden am Stück konzentriert arbeiten, vier Tage die Woche. Es ist ein Hochgenuss, Kapitel in Fachbüchern lesen und verstehen zu können â Konzentration ist etwas so Wunderbares. Ich hörte auf, mich zu hassen. Es wurde mir zur Gewohnheit, mich andauernd zu hinterfragen: Warum habe ich jetzt diese Gefühle? Was hat sie ausgelöst? Kenne ich die aus meinem Leben, sind es die der »kleinen Heide«? Was braucht sie? Wie kann ich ihr/mir helfen?
Depressiv im Sinne von handlungsunfähig bin ich daher nur noch selten. Zu meinen Empfindungen stehe ich inzwischen: Sätze wie »Ich weiÃ, Sie sind nicht gegen mich, aber ich fühlte mich total abgelehnt«, »Sie haben mich so enttäuscht« oder »Das sehe ich ganz anders« offen sagen zu können, ist für mich eine Sensation. Dass ich keine neuen Schulden mehr mache, erfüllt mich ständig mit Erleichterung. Es ist so befreiend, nicht mehr täglich in einen Blumenladen, ein Reisebüro oder einen Supermarkt zu stürmen, mit den panischen Worten: »Kann ich bitte mal bei Ihnen auf die Toilette gehen?« Wenn ein Patient versucht â noch immer suche ich zur eigenen Stabilisierung für einige Zeit das Krankenhaus auf â, mich als Hobby-Therapeutin zu missbrauchen, schaffe ich es zu sagen: »Es tut mir leid, ich kann das nicht aushalten, bitte sprich mit jemandem vom Personal.« Beziehungen zu Männern gehe ich im Moment keine ein, weil ich mich dem nicht gewachsen fühle â ich versuche, mich zu schützen. Dass ich maximal einmal die Woche zum Sport gehe, nicht dreimal, kann ich mir einigermaÃen verzeihen. Denn ich bin nicht so wie Christiaan Barnard, das habe ich inzwischen eingesehen. Und selbst wenn ich so
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