Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Weston vermittelte beständig: »Ich bin ja hier. Versprochen, im Notfall halte ich Sie, aber jetzt los, versuchen Sie es noch einmal.« Für meine Entwicklung bis zur Erwachsenen, zur Schwimmerin, musste ich unausweichlich die Emotionen des immer älter werdenden Kindes durchleben und in der Interaktion mit ihm lernen, mit diesen zurechtzukommen. Diese extremen Gefühle sind sehr anstrengend, für Patienten genauso wie für Kinder. Wir bleiben nicht auf der Kirmes â maÃloser Wutanfall. Ich will aber die blaue Jacke â verbissener Trotzanfall. Wir müssen jetzt los â Panikanfall, Oma ist blöd, Mama, geh nicht weg. Mein Ball, er darf nicht meinen Ball nehmen â Neid, Eifersucht, Verlustängste.
Die Therapie dient dazu, mit dem Behandler eine enge Beziehung einzugehen, weil man seelische Grundlagen wie das Mentalisieren und damit den Umgang mit solchen Gefühlen nur in einem echten Miteinander verinnerlichen kann â in den Worten von Dr. Weston: »Das Ich bildet sich über das Du.« Gerade Frauen sagt man oft, sie müssten doch nur beginnen, sich selbst zu lieben, dann würde es auch mit einem neuen Partner klappen. Man kann aber seine Empfindungen â Minderwertigkeitsgefühle, Eifersucht oder Selbsthass â nur sehr begrenzt ganz allein verändern, es braucht andere Menschen dazu. Die Theorie reicht nicht. Würde sich eine Frau sonst immer wieder von verheirateten Männern hinhalten lassen? Mit neuen Erfahrungen im Rucksack muss man später nicht immer wieder dem alten Muster folgen, sondern kann sich und seine Beziehungen ändern. Es reicht eben nicht, ein Buch über das Schwimmen zu lesen, man muss es zwingend im Wasser üben, mit Unterstützung von anderen. Und das macht nicht immer SpaÃ.
Auf mich kam nun etwas zu, womit ich in dieser Form nicht gerechnet hatte: Konfrontationen, Streit und Auseinandersetzungen. Mit Dr. Weston. Unser erstes Zerwürfnis, das sich über Wochen zog, versetzte mich in glühende Panik. Er erklärte mir, dass ich mit ihm durchmache, was gesunde Kinder von gesunden Eltern auch lernen. Dass man sich streiten, aber wieder versöhnen kann. Dass Konflikte kein Weltuntergang sind. Dass das Kind Bedürfnisse äuÃern darf, auf die auch Rücksicht genommen wird. Dass das Kind einen eigenen Willen haben darf, aber dass es zugleich Grenzen gibt.
Doch dann kam der groÃe Streit, scheinbar aus heiterem Himmel. Es ging mir zwar schon wochenlang schlecht, aber ich dachte, das hätte nur etwas mit mir selbst zu tun. Es war Herbst, der Regen peitschte ans Fenster, drinnen im Therapiezimmer war es aber warm und geborgen wie in einer Höhle. Eine Stehlampe tauchte den Raum in warmes, gelbes Licht. Es fühlte sich sicher an, Dr. Weston erneut ein Geheimnis anzuvertrauen. Ich sagte: »Jeden Abend zähle ich meine Tabletten. Ich habe einen Vorrat gesammelt und könnte eine Ãberdosis nehmen. Tot zu sein stelle ich mir vor wie das Paradies.« Ich empfand meine Worte als stimmig zu dem, wie es mir ging, und erwartete von ihm Verständnis. Doch vollkommen überraschend blaffte er mich an: »Das ist doch total abartig!« Wie vor den Kopf geschlagen, rauschte der Rest der Stunde an mir vorbei. Danach hatte ich eine schlimme Woche. O Gott, ich war abartig, ich wusste es doch, ich war ein Monster, vielleicht masochistisch? Albträume plagten mich. Mit einem mulmigen Gefühl ging ich zur nächsten Sitzung, war dann aber ganz stolz, dass ich es schaffte, ihm zu sagen, dass mich seine Worte sehr gekränkt und verunsichert hätten. Das kann man meist erst als fortgeschrittener Patient, nämlich berichten, welche Gefühle in einem ausgelöst worden waren. Dr. Westons Gesicht blieb verschlossen, als er antwortete: »Wir machen hier keine Kuscheltherapie.«
Heulend ging ich nach Hause, beschimpfte und quälte mein inneres Kind â »Es geht hier nicht um Liebe!« â und schrieb Dr. Weston einen Brief, in dem ich mich entschuldigte, eine solche Bürde zu sein. Ich erklärte ihm auch, ich würde nicht mehr kommen, weil es unerträglich für mich sei, dass er mich so ablehnte. Sicher sei das meine Schuld. Nein, mein Therapeut war nicht nur fürsorglich, einfühlsam, spiegelnd, verständnisvoll, Halt gebend und stabil wie eine gute Mutter. Er war auch ein strenger, harter, aufbrausender und kopfscheuer Vater. Vor allem aber war er ein Mensch,
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