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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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der sich von mir berühren ließ. Darauf wäre ich nie gekommen, denn meine echten Eltern waren emotional weitestgehend unerreichbar für mich gewesen. In diesem Konflikt, der Monate dauerte, lernte ich zum einen, was Gegenübertragung ist: Der Therapeut richtet seine eigenen Ängste, Vorurteile, Wünsche, Erwartungen auf den Klienten. Die Kunst liegt darin, sich dessen bewusst zu werden und damit reflektiert umzugehen. Doch viel entscheidender war, dass ich am Ende spürte, dass ich Dr. Weston wirklich am Herzen lag. Nie hätte ich gedacht, dass ich das durch einen schwer erträglichen Disput erfahren würde.
    Er antwortete mir mit einem knappen Zweizeiler, ich möge doch zum nächsten Termin kommen, dann könnten wir über das Vorgefallene sprechen. Ich war erstaunt und gerührt, dass er sich gemeldet hatte. Deshalb ging ich noch einmal zu ihm hin, wenn auch mit schlotternden Knien. Er lächelte zur Begrüßung, sein Händedruck war fest und dauerte drei Sekunden länger als nötig. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Wir begannen damit, dass wir die angespannte Situation bis zurück zu meinem vor Wochen dahingeworfenen Satz, in dem ich sagte, ich würde Tabletten horten, tot sein würde ich mir wunderbar vorstellen, sezierten.
    Dr. Weston schien mühsam beherrscht, als er fragte: »Was glauben Sie, was Ihre Worte in mir ausgelöst haben?« Sein Gesicht war wie in Stein gemeißelt, sodass ich erst einmal ängstlich reagierte: »Sind Sie immer noch böse auf mich?« Er seufzte. »Ich bin nicht böse. Versuchen Sie mal, sich in mich hineinzuversetzen.« Also sah ich gedankenverloren zu der roten Couch hinüber und dachte nach. Bei verschiedenen Aufenthalten in der Klinik hatte ich erfahren, dass die meisten Depressiven Suizidgedanken haben, das ist Alltag in der Psychiatrie. »Ich bin davon ausgegangen, dass Sie meine Aussage als ein typisches Symptom einer psychisch Kranken sehen würden«, sagte ich schließlich. Als er dann erklärte, was tatsächlich in ihm vorgegangen war, schien mir das noch unbegreiflicher zu sein als das Rutherford ’ sche Atommodell. Er hatte meine Bemerkung als »hoch aggressiv«, als eine Drohung empfunden. Deshalb hatte er spontan so barsch reagiert.
    Â»Es tut mir leid, dass ich so drastische Worte benutzt habe«, sagte er nun. »Natürlich sind Sie nicht abartig. Was ich meinte, war, dass es pervers ist, Selbsttötung als Paradies zu verherrlichen.« Ich war so gerührt, dass ich verlegen auf den beigefarbenen Teppichboden blickte. Bei mir hatte sich noch nie ein Erwachsener entschuldigt. Aber ich war auch verwirrt: Aggressiv sollte ich gewesen sein? Ich hatte doch nur meine Gefühle geschildert.
    Dr. Weston erfasste, was ich mit solchen unbewusst ausgesprochenen Sätzen bei ihm, bei anderen auslöste. Er versuchte, es mir zu erklären: »Ja, es ist letztlich Ihre Entscheidung, ob Sie Ihrem Leben ein Ende setzen oder nicht. Aber Sie sind meine Patientin, ich bin Ihr Arzt. Wir sind ein Bündnis eingegangen mit dem Ziel, dass Sie weiterleben. Ich will Ihnen helfen. Natürlich trifft mich dann so eine Äußerung.« Bestürzt erkannte ich, dass ich immer gedacht hatte, dass es für niemanden wirklich schlimm wäre, würde ich sterben. Dr. Weston machte mir sehr nachdrücklich klar, dass es für meine Freunde eine Katastrophe wäre.
    Mit der Zusage, die Therapie weiterzuführen, verließ ich nach fünfzig Minuten sehr nachdenklich seine Praxis. Bedeutete ich anderen wirklich so viel?
    In der nächsten Sitzung offenbarte er eine weitere Dimension meines Unbewussten. Ausnahmsweise eröffnete er die Stunde, indem er sagte: »Natürlich habe ich mir Gedanken über die vergangenen Monate gemacht. Die Empfindungen, die Sie in mir ausgelöst haben, waren Kränkung und Wut. Ist das Ihre Wut? Ich könnte mir vorstellen, dass Sie oft wütend auf mich sind, sich aber nicht trauen, es mir offen zu zeigen.« Ich, wütend? Auf ihn, der mir so sehr half? Mein erster Gedanke war: Spinnen Sie? Das sprach ich aber natürlich nicht aus. Doch mein skeptischer Gesichtsausdruck sprach offenbar Bände. Dr. Weston zeigte ein kleines, verschmitztes Lächeln, wurde dann aber wieder ernst. »Waren Sie niemals wütend? Auf Ihren Vater? Ihre Mutter? Durften Sie das äußern?«
    Â»Ich habe meinen Vater abgrundtief gehasst«, erwiderte

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