Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
ich tun musste, damit mich meine Partner, Freunde, Vermieter, Professoren, Therapeuten, Kollegen und Chefs angenehm fanden. Nur ich und meine Familie wussten, dass ich eigentlich ein widerliches Scheusal war. Heute noch träume ich davon, in der Schule das beliebteste Mädchen zu sein â oder wenigstens es zu werden, wie in dem amerikanischen Film Ungeküsst mit Drew Barrymore.
Wieder einmal saà ich bei Dr. Weston im Wartezimmer, kurz vor sechzehn Uhr. Der ganze Raum war grün: ein dunkelgrüner Teppich, vier tannengrüne Fauteuils, üppig wuchernde Pflanzen in jeder Ecke und auf dem gesamten Fensterbrett, eine kleine Stehlampe mit einem Schirm aus grasgrünem Glas, ich tippte auf Jugendstil. Ob ich noch mal schnell aufs Klo gehen sollte? Mein Magen rumorte. Der vierwöchige Sommerurlaub meines Therapeuten stand bevor, und ich wollte ihm heute diplomatisch, aber deutlich zu verstehen geben, wie wichtig er mir war. So geht es mir mit jedem, der wegfährt: Immer habe ich Angst, er würde nicht zurückkommen, und ich könnte nicht mehr sagen, was er mir bedeutet. Wenn ich mich an den Moment erinnere, als mir mitgeteilt wurde, dass meine Mutter tot sei, entstand als Erstes ein immenses Schuldgefühl: Ich konnte ihr nicht mehr sagen, wie lieb ich sie hatte.
Punkt vier Uhr saà ich dann Dr. Weston gegenüber auf dem Ledersessel. Er schwieg und blickte mich interessiert an. Er trug, wie so oft, einen dunkelbraunen Anzug mit einem hellbraunen Hemd. Wenn ich an ihn dachte, dann oft in den Worten »Brauner Bär«, mein Lieblingseis als Kind. »Worüber möchten Sie sprechen?«, fragte er schlieÃlich. In epischer Breite, in Worten, die ich mir in einem inneren Dialog stundenlang zurechtgelegt hatte, erklärte ich ihm, wie unentbehrlich er für mich sei und dass ich Angst hätte, er könnte während der Ferienzeit ums Leben kommen. Nach meinem Vortrag erwiderte er im ersten Moment nichts. Mir sackte das Herz in die Hose. Mit einem schwer zu interpretierenden Blick sprach er dann die dritte Deutung aus: »Sie haben so groÃe Liebessehnsucht.«
O Gott. Er wusste es nicht nur, sondern sprach es auch noch aus. Sein Satz öffnete eine Falltür unter mir. Ich fiel. Am Anfang der Behandlung, vor über einem Jahr, hatte ich mir zwar vorgenommen, nicht nur zu meinen Freunden ehrlicher zu werden, sondern ebenfalls in der Therapie. Doch jetzt fühlte ich mich splitterfasernackt. So beschämt und durchleuchtet, dass ich am liebsten aus dem Raum gerannt wäre. Denn ich hatte nicht nur Liebessehnsucht, sie richtete sich auch noch auf ihn. Doch das war streng geheim! Ich hoffte, ganz tief im Inneren verborgen, ich könnte seine Liebe gewinnen und dadurch heilen. In jeder Sitzung spreizte ich mich in dem Spagat, authentisch zu sein und trotzdem seine Lieblingspatientin zu werden. Nach einem unbewusst ablaufenden Muster versuchte ich herauszufinden, wie ich sein müsste, damit er mich lieben würde, so wie ich es, bei meiner Mutter angefangen, bei allen Menschen zuvor versucht hatte. Später fand ich heraus, dass ich mich verhielt wie im Lehrbuch: In der Beziehung zum Therapeuten tritt früher oder später das eigentliche Problem auf. Gott sei Dank war Dr. Weston erfahren und professionell genug, um meine emotionale Gier, meine uneingeschränkte Bereitschaft, für ein Fitzelchen Zuneigung alles zu tun, nicht nur zu erkennen, sondern auch angemessen zu behandeln. Denn für mich lag darin eine Gefahr, der ich mir nicht bewusst war. Um nicht mehr hungern zu müssen, hätte ich auch etwas Verschimmeltes gegessen. Wann immer ich das Gefühl hatte, ich bekam etwas, musste ich es auch nehmen â wer weiÃ, wann es wieder was gab.
Erst mit Dr. Weston â und durch vieles Lesen â wurde mir klar, dass ich nicht nur die Empfindung gehabt hatte, von meiner Gesprächstherapie fünfzehn Jahre zuvor nicht so viel »Passendes« bekommen zu haben, sondern dass der Therapeut tatsächlich kein guter war. Er hatte sich auf eine Art verhalten, die unter Fachleuten »narzisstischer Missbrauch« genannt wird â das heiÃt, er erzählte mir detailliert von seinen Kindheitsträumen, seiner Begeisterung für Modelleisenbahnen und seinen Eheproblemen. Schritt für Schritt kümmerte er sich nicht mehr um mich, sondern ich kümmerte mich um ihn. Und ich war so geschmeichelt! Ich dachte, wenn er mich zu seiner Vertrauten
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