Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Einkommen und an den Interessen, sondern vor allem an der Lebensweise. Die Menschen, die ich drauÃen kenne, Freunde und Bekannte, Chefs und Kollegen, kochen täglich frisch mit viel Gemüse und Bio-Fleisch, trinken nur maÃvoll Alkohol und treiben viel Sport. Auf der Station drängeln sich die Patienten im Raucherraum. Von meinen Freunden und Kollegen raucht kaum noch jemand. DrauÃen haben die Menschen, mit denen ich zusammenkomme, ein leichteres Leben, und das sieht man ihnen auch an. In der Klinik treffe ich Menschen mit schlechten Zähnen, mit Behinderungen und welche, die im Rollstuhl sitzen. Hier bin ich dankbar, dass ich nicht so perfekt sein muss wie drauÃen. Denn drinnen bin ich durchschnittlich hübsch und eine von vielen, die dick ist. Das ist da ganz normal. Unter meinen Freunden und zwischen den Kollegen bin ich dagegen die Einzige , die dick ist . Ich falle damit auf wie ein bunter Hund. Wenn ich jemandem aus meinem Berufsleben begegne, schäme ich mich immer dafür, wie ich aussehe. Auf der Station kann ich mich entspannen, dort ist es weniger wichtig, was man arbeitet und welche Statussymbole man sich leisten kann. Ob man sich versteht, hängt von ganz anderen Kriterien ab.
Während dieses Aufenthalts in der Psychiatrie mochte ich Karl am liebsten. Wir trafen uns nach meinem Telefonat mit Katrin auf dem Flur und redeten ein wenig. Er war Anfang vierzig, groà und kräftig, von Beruf Altenpfleger, allerdings nur noch in Teilzeit â der Rücken. Im linken Ohr trug er einen kleinen Ring, auf seinem Arm war groÃflächig ein Drache tätowiert. Ich mochte ihn, weil er in der Therapie immer bereit war, seine Gefühle zu reflektieren. AuÃerdem interessierten wir uns für die gleichen Dinge: skandinavische Krimis und das deutsche Pop-Duo Ich + Ich.
»Na, was hast du jetzt vor?«, fragte er mich.
»Ich werde ein bisschen Tagebuch schreiben«, sagte ich. »Und du?«
»Ich muss mit meiner Frau über die Geburtstagsfeier meiner Schwiegermutter sprechen«, antwortete er. »Mir graut jetzt schon davor.«
Ich legte ihm kurz die Hand auf die Schulter.
»Na dann, viel Erfolg.«
Samstag, 8. März 2008, 28.Tag: Leistungsträger und scheinbar Schwache
Birgit rief an. Sie ist die Ausnahme: Auch während meines siebten Klinikaufenthalts telefonierten wir täglich. Und über jeden einzelnen Anruf freute ich mich riesig.
»Hej, Heide, ich wollte nur mal hören: Kommst du zurecht?«, fragte sie.
»Ich wollte dir doch noch von der Visite erzählen«, plapperte ich gleich los. »Dr. Steinhausen war wieder unglaublich. Er hat tatsächlich zu mir gesagt: âºFrau Fuhljahn, das Leben ist nun mal kein Zuckerschlecken.â¹Â«
»Du, es tut mir leid, ich muss jetzt zur Probe, kann ich dich abends um sieben anrufen?« Birgit litt auch am Wochenende oft unter Zeitnot.
»Ja, gern. Hast du denn keine Vorstellung?«, fragte ich.
»Nein, ich hab endlich mal frei«, sagte Birgit. »Ich ruf dich dann später an!«
Birgit arbeitete damals am Theater. Wie alle Menschen, die ich drauÃen kannte, leistete sie beruflich überdurchschnittlich viel. Alle meine Freunde arbeiten hart, lange, hoch konzentriert, unter enormen Anforderungen. Sie beherrschen anspruchsvolle PC -Programme, reisen viel und haben dicht getaktete Termine. Für sie ist es normal zu sagen: »Heute Abend muss ich dringend noch einen Schriftsatz fertig machen« oder »Ãbermorgen fliege ich nach Shanghai« oder »Um 17 Uhr ist eine Sitzung mit dem Vorstand«. Sie gehen auch sonntags ins Büro und haben ein Gehalt, in dem die Ãberstunden mit eingeschlossen sind. Auf der einen Seite beeindruckt mich das sehr. Auf der anderen fühle ich mich oft klein und schwach neben ihnen. Nach diesen MaÃstäben leiste ich sehr wenig, arbeite nur phasenweise und klammere mich verzweifelt daran, überhaupt auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bleiben. Nach den MaÃstäben der psychisch Kranken dagegen bekomme ich tatsächlich noch viel auf die Reihe. Genau wie die anderen Patienten. Sie leisten nämlich drinnen Ãberdurchschnittliches, indem sie ihre aktuelle Krise zu bewältigen versuchen.
Das Leben von vielen ist oft so beeinträchtigt, dass sie nicht mehr Vollzeit oder überhaupt arbeiten können. Sie müssen sich mit Krankenkassen, Rententrägern und Behörden herumschlagen. Viele haben ein
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