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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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verderben und animierte nicht zu Gesprächen. Mir hingen die ewig gleichen Gerichte wie fetter Schweinenacken mit brauner Soße, faden Kartoffeln und zu weichen Möhren schon am ersten Tag zum Hals heraus. Zwanzig Minuten müssen wir am Tisch sitzen bleiben, eine der vielen Stationsregeln. Zu Hause kann ich zu den Mahlzeiten wenigstens lesen oder fernsehen. Ich koche mir normalerweise ein Thaicurry, ein Tabouleh, Spaghetti all’ Arrabbiata oder mache mir ein Vollkornbrot mit Ziegenkäse. Wahrscheinlich bin ich einfach verwöhnt. Es gibt nämlich auch Patienten, die das Essen auf der Station gut finden – sie sind aber in der Minderheit.
    Freitag, 7. März 2008, 27. Tag: Ein Kastensystem, mitten in Deutschland
    Morgenrunde. Beide Kleingruppen, also insgesamt zwanzig Patienten, saßen mit einem Krankenpfleger im Gruppenraum. Jetzt standen die pinkfarbenen Stühle an der Wand, nicht im Kreis in der Raummitte. Draußen prasselte der Regen. Drinnen war es vor allem eng, alle hockten dicht aufeinander; die Stimmung war angespannt. Vasili, vierzig, ein Mechaniker, groß und dünn, kam zu spät. Am liebsten hätte ich laut in die Runde gerufen: »Seht ihr! Ich bin nicht die Einzige, die unpünktlich ist!« Doch ich war ja gar nicht dran. Gerade erzählte Lara, zwanzig, Krankenschwester, zwei Piercings durch die Unterlippe, wie es ihr vom gestrigen Abend bis heute früh ergangen war: »Ich bin spät ins Bett, weil ich sowieso nicht einschlafen kann. Die Nacht war dann um vier Uhr zu Ende. Jetzt fühle ich mich wie gerädert. Ich gebe weiter.« Als Nächstes sprach Mohammad, dreißig, Polier. Seine Eltern stammten aus dem Iran. Dank seiner Fröhlichkeit und seiner großen schwarzen Knopfaugen war er der Liebling der Station. »Ich hab auch schlecht geschlafen«, berichtete er. Dann folgte Agnieszka, einundvierzig, sie arbeitete als Zugbegleiterin und hatte einen kleinen Sohn. Sie sagte: »Mir geht es heute genauso mies wie gestern.«
    Ich sah in die Runde und stellte wieder einmal fest: In der Klinik lebe ich zusammen mit Menschen, mit denen ich im Draußen wenig zu tun habe, mit Elektrikern, Sekretärinnen oder Verkäuferinnen. Zu Hause treffe ich die Freundin, die zur Kosmetikerin geht. Im Krankenhaus treffe ich die Kosmetikerin. Das fiel mir auch auf, als ich nach der Morgenrunde kurz mit Katrin telefonierte. Am Ende des Gesprächs fragte ich sie: »Was machst du heute Abend?«
    Â»Ach«, erwiderte sie, »ich gehe ins Spa, und danach habe ich mir einen Termin bei der Massage gegönnt. Und du?«
    Â»Wir gucken Wer wird Millionär? «
    Dass ich zu Hause in einer bestimmten sozialen Schicht lebe, wurde mir erst bewusst, als ich die bunt gemischte Welt des Krankenhauses kennenlernte. Meine Freunde sind Journalisten, Anwälte, Ärzte oder Lehrer, sie machen Öffentlichkeitsarbeit oder nennen sich auf ihrer Visitenkarte »Supply Chain Manager«. In der Welt, in der ich tätig bin, in den Verlagen, sieht es nicht anders aus. Dort arbeiten fast ausschließlich gut aussehende, schlanke, gepflegte, nach der aktuellen Mode gekleidete Menschen im Alter zwischen dreißig und fünfzig. Als der Boyfriend-Cut in war, trugen ihn alle Frauen, genauso wie den schlammbraunen Nagellack von Chanel oder Gladiatoren-Sandalen. In der edel gestylten Kantine sitze ich mit Kolleginnen zusammen und spreche über Themen wie diese:
    Â»Was haltet ihr vom neuen Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung?«
    Â»Wie ist denn dieses Jahr die Diät-Strecke gelaufen?«
    Â»Bei dawanda.com hab ich eine supercoole Bluse gekauft.«
    Â»Bald läuft der Film zu Sex and the City an – wollen wir da nicht hingehen?«
    In dieser Welt fühle ich mich oft wie in einer Blase. Die Patienten in der Klinik dagegen entsprechen viel mehr dem deutschen Durchschnitt. Man trifft Menschen in jedem Alter, mit allen nur erdenklichen Berufen und aus jeder sozialen Schicht. Cool und trendy sind die wenigsten. In den Verlagen sind die »Kasten« klar getrennt: Türkinnen sieht man vorwiegend unter den Putzfrauen, dunkelhäutige Afrikaner ausschließlich in der Küche. Wenn einer meiner Kollegen eine zweite Muttersprache hat, ist das Französisch oder Griechisch. Auf der Station dagegen gibt es viele Migranten aus der Türkei und Spätaussiedler aus Polen oder der ehemaligen Sowjetunion. Die Unterschiede zeigen sich nicht nur am

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