Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Burnout-Syndrom, doch nicht der beruflichen Art, sondern der privaten. Sie mussten sich beispielsweise um ein mehrfach behindertes Kind kümmern und auÃerdem um die an Alzheimer erkrankte Mutter. Oder um einen noch vom Zweiten Weltkrieg traumatisierten GroÃvater. Oder alles zusammen. Und das mit weniger Kraft, weil sie schwer depressiv sind. Wobei das eine oft das andere bedingt. Viele Patienten erwecken in mir ein Gefühl der Bewunderung. Was die alles bewältigen! Für mich sind sie die eigentlichen Leistungsträger.
Sonntag, 9. März 2008, 29. Tag: Mitgefühl, ein kostbares Gut
Abendrunde. ÃuÃerlich war alles wie immer: Gruppenraum, pinkfarbene Stühle, zehn Patienten, die von ihrem Wochenende berichteten. Viele davon waren nach Hause gefahren, zu ihren Familien; ich war in der Klinik geblieben. DrauÃen war es schon dunkel, wir zogen die grauen Lamellenvorhänge auf, um trotzdem ein Gefühl von Helligkeit zu bekommen. An diesem Tag saà bei uns eine Krankenschwester, die ein bisschen aussah wie ein Punk mit ihrem kurzen, aber deutlichen Irokesenschnitt. Sie fragte viel und führte mit jedem einen minutenlangen Dialog. Etliche Schicksalsschläge kamen wieder ans Licht:
»Mit meinem Partner konnte ich wieder nicht schlafen. Mit sechzehn hat mich mein damaliger Freund vergewaltigt.«
»Meine Tochter hat gestern den ganzen Tag gehustet, ich werde dann immer gleich panisch. In ihrem ersten Lebensjahr wurde sie achtzehnmal operiert.«
»Als ich meinen Vater am Samstag mit dem Holz hantieren sah, stieg alles wieder in mir hoch. Er hat mich früher immer mit dem Kaminbesteck geschlagen.«
Die Krankenschwester sagte, in dieser Runde gehe es ja viel um Machtlosigkeit, ums Ausgeliefertsein, eine Erfahrung, die die meisten aus der Gruppe sicher teilen würden. In der Tat: Ich habe mich in meinem Leben schon oft hilflos gefühlt. Dass es den anderen auch so geht, verbindet und tröstet. Mitgefühl ist kostbar. Doch manchmal ist die Krankheit, der Leidensweg der anderen Patienten, kaum zu ertragen. An diesem Sonntag hörte ich wieder von so schweren Schicksalen, dass ich weinen musste. Ich wusste, dass ich in den nächsten Tagen über die Frau nachdenken würde, von der ich gerade erfahren hatte, dass sie mit sechzehn vergewaltigt wurde. Ich würde das schwer von mir fernhalten können. Nachts würde ich deswegen Panikattacken haben.
Denn ich fühle mich wie ein Kind, dem ein krankes Geschwister anvertraut wurde und das davon völlig überfordert ist. Und ich schäme mich dann auch oft für mich. Denke, dass ich nicht so viel jammern sollte über mein kleines Schicksal. Ich treffe häufig Patienten, denen nach meinem Gefühl viel Schlimmeres passiert ist als mir. Und da will ich mich hinstellen und sagen, ich kann schon das Zuhören nicht aushalten? Ich fühle mich dann häufig erbärmlich, als wäre es eine Ausrede. Man sagt ja, Dicke brauchen ihren Körperumfang wie einen Schutzpanzer. Wenn ich Bilder von mir in der Kunsttherapie male, erscheint da immer ein kleines, mageres Mädchen. So fühle ich mich. Nicht wie eine groÃe, erwachsene, dicke Frau. Die ich aber bin.
Montag, 10. März 2008, 30. Tag: Wer bin ich â und wenn ja, wie viele?
Ergotherapie. Der Raum im ersten Stock war groà wie ein Atelier, er sah aus wie der Kunstsaal einer Schule. Die Holztische hatten bunte Farbsprengsel, in der Ecke stand ein Tonofen. Die Wände waren gepflastert mit unterschiedlichen Bildern: groÃe, kleine, schwarz-weiÃe, bunte, abstrakte, naturalistische, kubistische. Die Schränke waren voller Möglichkeiten, sich kreativ auszudrücken: Pastell- und Ãlkreiden, Speckstein, Ton, Flechtmaterial, Aquarellfarben, Wachs- und Buntstifte. Wir sollten heute aus Zeitschriften eine Collage basteln. Die Therapeutin, kurze, mausgraue Locken umrahmten ihr sommersprossiges Gesicht, stellte uns auÃerdem ein Thema: »Wer sind Sie? Was haben Sie für schlechte Seiten â aber vor allem: was für gute? Was ist an Ihnen positiv? Was zeichnet Sie aus?«
Ich fühlte mich gehemmt. Wenn das Feedback der Gruppe nur halbwegs zutraf, war ich unpünktlich, unzuverlässig und herrisch. Was mochten eigentlich meine Freunde an mir? Ich beschloss, erst einmal in den Zeitschriften zu blättern und mich inspirieren zu lassen. Manche Patienten suchten gemeinsam nach Fotomotiven und gedruckten Worten. Sie
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