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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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ich bockig. Was ging es die anderen eigentlich an, ob ich nun pünktlich zum Frühstück kam oder nicht? Ich erntete augenblicklich Gegenwind: »Jeder hier muss sich an die Regeln halten. Hör doch mal auf damit, ständig Ausreden zu erfinden.«
    Schon oft war ich heulend aus der Therapie gelaufen, weil ich so gekränkt und verletzt war. Jetzt war es wieder so weit: Mir schossen die Tränen ins Gesicht, und ich verließ den Raum. Ich fühlte mich, als hätte man mich überhaupt nicht wahrgenommen.
    Wie hatte es nur dazu kommen können? Wieso war es nicht bei jenem Klinikaufenthalt im Sommer 2006 geblieben, wieso mussten noch viele in den nächsten Jahren folgen? Weil sich während meiner ersten stationären Behandlung das bestätigte, was ich seit meiner Kindheit geahnt hatte: Ich bin ernsthaft seelisch krank. Meine Depression ist chronisch. Als ich das fünfzehnte Mal auf einer psychiatrischen Station war, habe ich aufgehört zu zählen. Mit der Klinik trat eine neue Welt in mein Leben, die meine alte nachdrücklich verändert hat. Ich bin zu einer Pendlerin geworden. War ich früher jedoch monatelang »auf Station«, sind es dank der guten Therapie bei Dr. Weston heute nur noch Wochen. Zuerst war ich fast die Hälfte des Jahres da, aktuell sind es, aufs Jahr verteilt, etwa drei Monate. Meinen Freunden schicke ich dann immer eine SMS : »Mir geht’s nicht gut, muss wieder ins Krankenhaus. Melde mich, wenn’s besser läuft.« Am Anfang hagelte es prompt Antworten, in denen stand: »Gute Besserung«, »Mensch, das tut mir aber leid« oder »Halt die Ohren steif«. Mit den Jahren wurden sie weniger. Denn dass ich in die Psychiatrie muss, ist für meine Freunde und mich etwas Normales geworden. Heimlich wünsche ich mir, immer noch so umsorgt zu werden wie beim ersten Mal: mit vielen Besuchen, Briefen, Karten, Päckchen und Anrufen. Denn für mich ist jeder Aufenthalt im Krankenhaus weiterhin ein Ausnahmezustand.
    Mittwoch, 5. März 2008, 25. Tag: Mit Geschwistern im Kinderheim
    Der Tag hatte einen seltenen Höhepunkt: Meine Freundin Katrin kam zu Besuch. Wir haben uns 1997 bei einem Praktikum beim Fernsehen kennengelernt. Sie ist zweiundvierzig, groß und schlank, hat kurze dunkle Haare, braune Augen und eine überaus freundliche Ausstrahlung. An diesem Nachmittag brachte sie frisches Obst mit. Ich freute mich sehr über ihr Kommen und war schon ganz kribbelig, ihr zu erzählen, wie es mir ging. Wir setzten uns ins Erdgeschoss in die Cafeteria, ein an drei Seiten verglaster Raum mit Servietten und künstlichen Blümchen auf den Tischen. Weder der Service noch das Essen konnte uns erfreuen. Der Kuchen war noch am besten. Ich erinnerte mich daran, dass eine Patientin einmal treffend gesagt hatte: »Wir sind hier nicht im Hilton!«
    Bevor ich etwas sagen konnte, fragte Katrin, wie es denn bei diesem Aufenthalt so laufen würde.
    Voller Wut berichtete ich ihr von der Gesprächsgruppentherapie: »Sie waren schon wieder alle gegen mich. Weil ich es oft nicht zum Frühstück schaffe. Jeder Tag beginnt für mich mit Panik, und ich kann dann einfach nicht aufstehen. Aber die Patienten nehmen mir das nicht ab.«
    Katrin blickte mich erstaunt an. »Warum regst du dich eigentlich so auf? Warum interessiert dich, was sie sagen?«
    Ich fühlte mich unverstanden und versuchte, Katrin das Stationsleben zu erklären: »Drinnen kommt es schneller zum Streit, und den zu führen, ist viel härter als eine Auseinandersetzung mit Freunden. Es tut sehr weh, wenn jemand sagt: ›Von dir fühle ich mich immer an die Wand gedrängt‹ oder ›Deine Art nervt einfach total‹.« Mehrfach wollte ich die Station verlassen, weil ich mich ausgestoßen und weggebissen fühlte. Nicht nur Katrin, auch andere Freunde sind immer wieder überrascht, dass der Kontakt mit den Patienten so intensiv ist. Da führt man erbitterte Kontroversen mit Menschen, die man vor zwei Wochen noch gar nicht kannte. Vordergründig geht es meist um Pünktlichkeit, ums Aufräumen oder um soziales Verhalten. Nach der Erfahrung in meiner ersten Musiktherapiestunde habe ich Jahre gebraucht, viele Tränen geweint und noch mehr Wortgefechte durchgestanden, um zu begreifen, was sich hinter diesen Konfrontationen verbirgt. Ein Grund ist, dass sich viele lieber in einen Streit darüber stürzen, wie dreckig der

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