Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Aufenthaltsraum ist, als sich mit ihren eigenen, schmerzhaften Problemen auseinanderzusetzen. Dann finden in der Morgenrunde Diskussionen statt wie diese:
»Leute, ich hab die ganze Woche aufgeräumt, ich bin nicht eure Putzfrau.« (Katja)
»Du lässt es ja auch keinen anderen machen. Wenn ich meine Teetasse wegräumen will, warst du schon wieder schneller.« (Elin)
»Ach, jetzt bin ich schuld daran, dass du zu langsam bist?« (Katja)
In solchen Situationen war ich meist genervt. Immer diese Zankereien über Nebensächlichkeiten, die nichts bringen auÃer Frust, so dachte ich lange. Bis ich begriff: Die Welt hier drinnen ist wie ein Kinderheim. Die meisten Patienten scheinen verletzte, vernachlässigte, im engen und im weiteren Sinn misshandelte Kinder zu sein. Alle sind auÃerordentlich empfindlich und extrem leicht zu kränken. Man tritt sich ständig gegenseitig auf die FüÃe. Die meisten Depressiven, die ich kennengelernt habe, fühlen sich wie ich: wertlos, klein und unbedeutend. Und aus diesem Grund geht es immer nur vordergründig um die Spülmaschine oder den Raucherraum.
Ich brauchte so lange, um das zu erkennen, weil viele eine stabile Fassade haben und gut schauspielern können. Eine groÃe Anzahl depressiver Menschen wirkt nach auÃen sehr belastbar, aber eben nur nach auÃen. In die Psychiatrie gelangen sie deswegen in der Regel erst nach jahrelangem Leid. Sie sind dann bedürftig, seelisch ausgehungert. Sie brauchen, genau wie ich, ganz viel Anteilnahme, ganz viel Aufmerksamkeit. Und um diese konkurrieren wir miteinander. Wir sind wie Geschwister, die eifersüchtig darüber wachen, dass der andere nur ja nichts bekommt, was man selbst auch nicht erhält. Nie werde ich vergessen, wie einmal eine Patientin in der Gruppentherapie zu mir sagte:
»Na ja, ich muss zugeben, dass ich dich nicht mag, weil ich so neidisch auf dich bin.«
Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Neidisch? Worauf, in Gottes Namen, soll man denn bei mir neidisch sein?«
»Du kannst dich immer so gut ausdrücken. Und wenn wir abends fernsehen, kennst du immer die Schauspieler und Regisseure.«
Ich war sprachlos und fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Weder das eine noch das andere war für mich etwas Besonderes. Aber dieser knappe Dialog war eine groÃe Lektion für mich: Es gibt Menschen, die mich beneiden. Eben wie ein Geschwisterkind. Darauf wäre ich von allein nicht gekommen. Ich kannte den Neid nur bei mir selbst. In jeder Gruppe fand ich immer jemanden hübscher, charmanter und klüger als mich. Das Gefühl, von Eifersucht zerfressen zu werden, weil eine bestimmte Frau in der Gruppe beliebter ist als ich, oder schlanker, war mir nicht fremd. In der DrauÃen-Welt beobachtete ich das an den Kindern meiner Freunde. Sie verhalten sich offen so, wie es die Patienten im Verborgenen tun: missgünstig, im ständigen Wettstreit miteinander. Neid ernte ich in der Klinik auch, weil ich scheinbar, von auÃen gesehen, noch viel kann. Dabei empfinde ich mich meist als Schwächling. Doch die Patienten schätzen mich häufig ganz anders ein, viele finden mich stark und durchsetzungsfähig. Zwischen dem, wie ich mich fühle, und dem, was ich ausstrahle, klafft ein riesiger Unterschied. Das geht sehr vielen Patienten so, doch sie fallen bei mir genauso auf die Fassade herein wie ich bei ihnen. Auch ich wirke fast immer stärker, selbstbewusster und gesünder, als ich bin. Welche Qualen mich das kostet, sieht man nicht.
Donnerstag, 6. März 2008, 26. Tag: Spaghetti allâ Arrabbiata oder Schweinenacken
Pünktlich um halb eins schlurften die Patienten nacheinander in den Speisesaal zum Mittagessen. Dort stand ein langer Tisch aus hellem Furnierholz, links an der Wand brummte ein Kühlschrank, auf dem Fensterbrett welkte ein Basilikum in einem Plastiktopf vor sich hin. Aus einem grauen Radio ertönte Popmusik. Während sich jeder an der Durchreiche zur Küche aus den eckigen Plastikschalen mit den Speisen den Teller füllte, sagte mindestens einer: »Mahlzeit!« Ich fühlte mich wie unter Arbeitern in einer Kantine und ging einen für mich tragbaren Kompromiss ein: »Mohltied!«, sagte ich auf Plattdeutsch.
Ansonsten wurde kaum gesprochen. Viele kamen gerade aus einer Therapie und waren davon noch völlig in Anspruch genommen. Das Essen an sich konnte einem aber auch die Laune
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