Kalt ist der Abendhauch
war, schien ihn das zu treffen. Er versuchte, mir meinen neuen Schwarm
auszureden, doch vergeblich. Ich solle bloß keine Dummheiten machen.
»Das mußt gerade du sagen«, antwortete ich.
Hugo verliebte sich genau in jenem Augenblick in mich, als er keine Chancen mehr hatte. Immerhin verdanke ich es ihm, daß ich nicht aus purer Einfalt, wie meine Schwester Ida, den Führer anhimmelte. Im Grunde war auch Hugo kein politischer Mensch, schon gar kein Held und Märtyrer, aber dafür ein leidenschaftlicher Leser. Wenige Monate nach Alberts Tod brannten allerorts die Scheiterhaufen. Unter Absingen
scheußlicher Lieder wurden Bücher von Heine, Tucholsky, Remarque, Freud und vielen anderen den Flammen übergeben. Hugo entsetzte sich darüber und konnte mir seinen Abscheu so bewegt vermitteln, daß ich ihm recht gab.
Bei Vater verhielt es sich anders, er war aus tiefster Seele konservativ und wollte ein gekröntes Haupt an der Spitze seines Landes wissen. Fanni hingegen erkannte als frischgebackene Katholikin, daß die Kirchen im Dritten Reich keine guten Karten hatten. Im übrigen verließ sie uns kurz nach Alberts Tod und zog als Kindermädchen mit einer ebenso reichen wie frommen Familie ins Rheinland. Meine Eltern, die hartnäckig an die Mär des frühzeitigen Verwelkens ehe- und kinderloser Frauen glaubten, waren erleichtert, daß sie nicht Nonne wurde; vielleicht ergab sich in der Fremde eine passable Heirat, denn mit vierundzwanzig Jahren sollte sie lieber dieses Ziel verfolgen, als fremde Kinder zu wickeln. Auch Heiner war umgesiedelt, er arbeitete als Bildjournalist an einer großen Frankfurter Zeitung, in einer guten Stellung. Ernst Ludwig wurde von einer Bauerntochter umworben und grübelte, ob er zugreifen sollte; es gab keinen männlichen Erben auf dem Hof. Sah er in Gedanken viele blonde Kinder Ährenkränze flechten? Obgleich es nicht die große Liebe war und sein Heuschnupfen die Arbeit im Freien von Saison zu Saison stärker erschwerte, hat er das Bauernkind dann geheiratet. Zum Vorteil der ganzen Familie, wie sich in mageren Zeiten herausstellte.
So waren wir im Jahre 1934 plötzlich nur noch halb so viele am großen Tisch: die Eltern, Alice und ich, Hugo häufig, Ida mit der kleinen Heidemarie gelegentlich. Ich hatte Glück, daß meine Arbeitsstelle nah am Elternhaus lag, so daß ich meine kurze Mittagspause dort verbringen konnte. Seit ich die Handelsschule erfolgreich abgeschlossen hatte, arbeitete ich als Stenotypistin für einen Abteilungsleiter der Deutschen Bank.
»Mein geliebter Lehrer war schnell vergessen.« Ich muß wohl die letzten Worte halblaut gemurmelt haben, denn der jüngste und schnellste der Studenten - sie nennen ihn Speedy - hebt meine Schiefertafel, auf die ich schreibe, was besorgt werden muß, in die Höhe und fragt: »A propos Schule - was zum Teufel ist denn das hier?«
»Eine Hasenpfote«, sage ich belustigt, »zum Auswischen der Schrift.«
Speedy ist fasziniert. Ob früher alle Kinder mit Ranzen, Tafel und Hasenpfote zur Schule gegangen seien? Nein, in die Schule nahm man ein Schwämmchen mit. Aber ein Vetter meines Vaters besaß in Frankfurt-Sachsenhausen eine Apfelweinkneipe. Einmal im Jahr, und zwar am Wäldchestag, lud er unsere ganze Familie ein. Auch wir Kinder bekamen ein wenig Äppelwoi, der Stöffchen genannt wurde, aus dem blaugrauen Bembel ausgeschenkt, dazu Handkäs oder Schmalzbrot. Über der Theke hingen die Tafeln für die Skatspieler, jede mit einer angebundenen Hasenpfote ausstaffiert. Sonntags gab es in der Kneipe Kaninchenbraten, und im Laufe der Zeit fielen die niedlichsten Hasenpfoten dabei ab, so daß man uns Kindern stets eine frische schenken konnte. Was gab es Schöneres als dieses seidenweiche Fellchen, mit dem man sich wie mit Mutters Puderquaste streicheln konnte, wenn man sich nicht mit der Laufseite kratzen wollte; als Tauschartikel waren diese Hasenpfoten auch bei anderen kleinen Mädchen stets willkommen.
Ich krame ein Foto aus meinen ersten Schultagen heraus: Ein ABC-Schaubild und eine Landkarte schmücken die bis auf halbe Höhe holzgetäfelten Wände, dazu ein großes Rechenbrett und einige ausgestopfte Vögel. Nicht zu übersehen sind die zugebundenen Handarbeitskörbchen, die große Glocke und die vielen Kinder, die mit gespitztem Griffel aufs Diktat warten.
Von allem bleibt nur diese letzte Hasenpfote, die den Krieg und meine drei Kinder überstanden hat und inzwischen mumifiziert ist.
Mumifiziert - es läuft mir kalt den
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