Kalt ist der Abendhauch
Übrigens, was für einen Beruf hatte dein Hugo überhaupt?«
Ursprünglich wollte Hugo Förster werden, dann wurde er durch Einheirat Juniorchef unseres Schuhgeschäftes. Als Vater 1937 starb, berief Mutter eine Familienzusammenkunft ein. Die großen Brüder waren zwar auf der Beerdigung erschienen, aber nun hatten sie keine Zeit. Ihnen sei alles recht, was die Weiterführung des Ladens anbelange, ließen sie ausrichten. Ernst Ludwigs Frau gebar damals gerade einen nordischen Junghelden, Heiner steckte mitten in der Arbeit für eine Fotodokumentation über die Hitlerjugend. Auch Fanni, die inzwischen als Haushälterin bei einem alten katholischen Pfarrer in Rheindorf diente, konnte nicht abermals Urlaub nehmen.
So saßen wir - Mutter, Hugo, Ida, Alice, Bernhard und ich -um den Familientisch, als Mutter den Wunsch äußerte, selbst in die Geheimnisse der Geschäftswelt eingeführt zu werden. Ich hatte schon gefürchtet, daß die Reihe abermals an mir wäre. Hugo machte indes etwas gedankenverloren einen Vorschlag:
Wir könnten alle zusammen das Schuhgeschäft in einen Buchladen umwandeln. Vielleicht hätten dann auch Alice, er selbst und ich Freude an der Arbeit. Er spielte auf die ihm verhaßten fremden Schweißfüße an, als er meinte: »Literatur statt Pilzkultur.«
Meiner Mutter blieb die Spucke weg, aber nicht sie, sondern Ida protestierte scharf. Es handle sich um ein alteingesessenes und renommiertes Geschäft mit Stammkundschaft, man könne es der Familie nicht zumuten, auf eine sichere und solide Einnahmequelle zu verzichten. Wir schwiegen alle und ließen ihre Worte nachwirken. Schließlich war es Alice, die ihren Schwager ein wenig unterstützte. »Seit langem habe ich das Gefühl, daß Hugo als Vaters Nachfolger nicht den richtigen Beruf gefunden hat. Seine Leidenschaft gilt den Büchern -warum soll er diese Liebe dem Mammon opfern?«
Hugo lachte über die pathetischen Worte, aber sie gefielen ihm.
Schließlich kam es zu einem tiefen Konflikt zwischen Hugo und Ida. Nach einem Jahr übernahm Ida die Leitung des Schuhladens, und Mutter saß an der Kasse, während Hugo sich anderswo zum Fachbuchhändler ausbilden ließ. Er bekam kein Gehalt, sondern mußte froh sein, kein Lehrgeld zahlen zu müssen. Alice schuftete - nicht gerade freiwillig, sondern im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes - in einem Krankenhaus, aber sie half in ihrer spärlichen Freizeit auch ein wenig mit, während ich gelegentlich einen Geschäftsbrief tippte. So war Vaters Laden ein reiner Frauenbetrieb geworden, was anfangs von der Kundschaft argwöhnisch beäugt wurde. Es war aber, als wäre unsere Mutter auf einmal wieder jung geworden, so gut gefiel ihr die späte Berufstätigkeit. Eigenschaften, die wir nie an ihr kennengelernt hatten, kamen zutage: Ehrgeiz und
Selbstbewußtsein.
Ida setzte es durch (Hugo hatte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen), daß sie in das elterliche Haus zurückzogen, das für
Mutter und Alice tatsächlich zu groß war. In jener Zeit verliebte sich Hugo in eine Kollegin, was Ida nicht entging. Es war sogar von Scheidung die Rede. Bernhard und ich wurden von Mutter als Vermittler bestellt.
Hugo und Bernhard pflegten sich stundenlang über Weltliteratur zu unterhalten. Anfangs war ich stolz, daß mein Mann sozusagen Experte war, daß er am Gymnasium den älteren Schülern Schiller und Goethe nahebrachte. Aber irgendwann ging mir das ewige »Was will uns der Dichter damit sagen?« gewaltig auf die Nerven.
Bei Hugo war es anders. Er lebte mit den Romanfiguren und konnte in einem naiven Ton, aber wie besessen von ihnen erzählen, so daß man das Buch auf der Stelle verschlingen wollte. Überdies verstand er es, den Glöckner von Notre-Dame oder Kapitän Ahab mit einer Begeisterung nachzuspielen, daß einem die Tränen in die Augen stiegen.
Bernhards Interpretationen waren blutleer, Hugos strotzten vor Lebendigkeit. Es war merkwürdig, daß diese Debatten ihnen dennoch Freude machten. Bernhard hielt dabei Plädoyers für Gerhart Hauptmann, Hugo für Tschechow.
»Also Buchhändler«, sagt Felix.
»Ja doch, Hugo wurde Buchhändler, und zwar ein exzellenter. Wenn das Schuhgeschäft nicht in einer schrecklichen Bombennacht in Schutt und Asche zerfallen wäre, dann hätte er vielleicht nach dem Krieg einen schönen Buchladen in Darmstadt eröffnet...«
»Oma, soll ich die Bilder im Wohnzimmer genauso aufhängen wie gehabt?«
»Nein, nein, alles neu macht der Mai.«
Er sieht mich ratlos an. »Vielleicht
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