Kalt ist der Abendhauch
nur die Familienfotos?« schlägt er vor.
»Nein, mid is shit. Ich will weiße Wände, vielleicht eine einzige moderne Graphik?«
Felix fragt mißtrauisch: »Ein Friedensdemo-Poster? Meinst du, das gefällt dem alten Herren?«
»Nein, Kunst, Picasso.«
Felix lacht. »Aber Oma, der ist doch nicht modern, den rechnet man längst zur Klassik.«
Ich krame im Kleiderschrank. Da ist es ja schon, das große zusammengerollte Plakat, das mir Hugo 1956 geschenkt hat: eine kleine Artistenfamilie - Vater, Mutter, Kleinkind - und ein Affe. Harlekin und Tänzerin wenden sich ausschließlich dem Hemdenmatz zu. Hugo und mir hatte es der eifersüchtige Anthropoide angetan, der mit abgründiger Trauer das Glück der anderen und seine eigene Ausgrenzung wahrnimmt.
»Vergleichst du Albert mit diesem Affen?« fragt Felix intuitiv.
»Junge, versündige dich nicht. Albert war menschlicher als meine gesamte übrige Familie, Alice vielleicht ausgenommen. Aber was Gefühle anbelangt, beispielsweise die Fähigkeit zur Trauer, können Tiere, wie zum Beispiel Hunde, dem Menschen überlegen sein.«
Felix hat die Angewohnheit, übergangslos das Thema zu wechseln. Er verlangt die Schlüssel zur oberen Wohnung. »Nein«, sage ich, »oben ist es schmutzig, unaufgeräumt, verkommen. Es ist mir peinlich.«
Aber ich sei doch nie ein spießiger Putzteufel gewesen, ob ich dort vielleicht eine Leiche versteckt hätte?
Dort nicht, denke ich und krame die Schlüssel aus dem Gänsebräter. Strahlend zieht die ganze Bande die steile Treppe hinauf. Jahrelang war ich nicht mehr oben, Ulrich hat als letzter seinen Steinbaukasten evakuiert, als er mir vor einigen Jahren die Gasheizung einbauen ließ. (Mein Gott, war das eine Zitterpartie!)
Ich weiß genau, daß sie in einer halben Stunde mit allen möglichen Gegenständen beladen vor mir Männchen machen werden.
»Sei nicht so geizig, wenn die Kinder etwas von dir wollen«, sagt Hulda, »aber eines möchte ich doch noch wissen: Warst du wenigstens als frischvermählte Frau glücklich? Es klingt alles so negativ, was du bisher von deinem Mann erzählt hast.«
Das war ungerecht von mir, Bernhard hat es nicht verdient. Natürlich war ich anfangs begeistert von der Ehe, denn eine große Last war von mir gewichen: die Angst, als alte Jungfer zu enden, so wie die verblühte Fanni. Ich fand es wunderbar, »mein Mann« sagen zu können, und ich genoß es, in einem Ehebett zu liegen, nachts Gesellschaft zu haben. Als ich schließlich schwanger wurde und unter Beweis stellen konnte, daß ich anderen Frauen in puncto Fruchtbarkeit nicht nachstand, war mein Glück fast vollkommen.
Ich sage »fast«, denn ich wäre gern fröhlicher gewesen. Bernhard belehrte mich wie eine Schülerin, verbesserte und ermahnte mich, liebte mich wohl auch, aber er verstand überhaupt keinen Spaß. Mit gefurchten Brauen schüttelte er das Haupt, wenn ich aus nichtigem Anlaß oder gar über ihn lachen mußte. Jeden Morgen tauchte er den klugen Schädel ins Waschbecken und »machte den Wasserkopf«, um schließlich mit dem Kamm einen haarscharfen Mittelscheitel zu ziehen und seine feinen braunen Haare grätenartig auf beiden Seiten zu verteilen. Ich sah gern zu und kicherte, bis er es sich angewöhnte, die Badezimmertür abzuschließen.
Unerwartet schnell poltern die Studenten von oben herunter, also haben sie tatsächlich nur die drei kleinen Räume besichtigt
und nicht das Unterste zuoberst gekehrt. Außer Felix betritt keiner mein funkelnagelneues Wohnzimmer. Er umklammert eine große Konfektschachtel. Also doch. »Oma, darf ich ein bißchen in deinen Schätzen wühlen?« fragt er gänzlich ungeniert.
Mir liegt die Bemerkung auf der Zunge, daß er sich nach meinem Ableben in Ruhe bereichern könne. Aber ich sage es nicht, packe mir die Schachtel mit den geprägten Rosen und mit dem verblichenen Aufdruck >Stollwerks feinste Pralinen< auf den Schoß und streife die Einmachgummis ab. Ich weiß selbst nicht mehr genau, was ich vor Jahrzehnten darin verwahrt haben mochte.
»Muscheln«, sagt Felix verwundert. Ein spanischer Fächer, die Speisekarte eines teuren Lokals, Perlen einer gerissenen Kette in einem Briefumschlag, nicht mehr zu identifizierende Fotos von kleinen Kindern meiner Freundinnen, Indianerschmuck von meiner ältesten Tochter. Felix und ich wühlen auf einmal gemeinsam mit leidenschaftlicher Neugierde. Er ahnt, daß manche Gegenstände eine romantische Bedeutung für mich haben. Als er ein kleines weißes
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